# taz.de -- Die Wahrheit: Schlammwühlender Sportfisch | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (220): Der Karpfen ist | |
> ein muffiger, aber bisweilen wundertätiger Alleskönner unter Schmerzen. | |
Bild: Ein Karpfen taucht mit dem Gesicht eines Tigers auf | |
Der Süßwasserfisch gehört zur Gattung Karpfen, zur Familie der | |
Karpfenfische, zur Überfamilie Karpfenfischähnliche und zur Ordnung der | |
Karpfenartigen. Es sind große harmlose Schlammwühler, aber ich mag sie | |
nicht. | |
Als kleiner Junge lag ich mit Scharlach im Krankenhaus, musste zwei Mal in | |
der Woche gekochten Karpfen essen und bekam täglich eine Spritze in der | |
Hintern. Das hat mir den Speisefisch verleidet. Dennoch besuchte ich im | |
Sommer 2023 einen Karpfenzüchter in der Lausitz. In seinem Büro hing ein | |
„erotischer Karpfenkalender“ mit Fotos von Mädchen im Bikini, die halb im | |
Wasser stehend einen Karpfen an ihre Brust drückten. „Dies ist eine | |
erfolgreiche Werbemaßnahme für unseren beliebten Speisefisch“, meinte der | |
Züchter. | |
Ich habe jedoch schon lange niemanden mehr einen Karpfen essen gesehen. Sie | |
haben zu viele Gräten und schmecken muffig, sagt man. Früher wurde der | |
„Weihnachtskarpfen“ vor dem Schlachten einige Tage lang in einer Wanne mit | |
Leitungswasser „gehältert“, damit er seinen Schlammgeschmack verliert. Das | |
liege an den Blaualgen, die sich bei Hitze massenhaft in den Teichen | |
vermehren, erklärte mir der Züchter. | |
Als er sich nach der Wende mit einer Zuchtanlage selbstständig machte, | |
bezog er seine Karpfen zunächst aus Böhmen, wo es viele Karpfenteiche gibt, | |
die einst von den Mönchen angelegt wurden. Die Fische waren eine beliebte | |
Fastenspeise. Noch heute würden auf dem deutschen Markt viele Karpfen aus | |
Tschechien stammen. Inzwischen unterscheide man acht Zuchtformen: | |
Schuppen-, Zeil-, Spiegel-, Leder-, Zweifarb-, Geister- und F1-Karpfen – | |
Kreuzungen aus Karausche und Karpfen. Bei Karpfenanglern seien voll | |
beschuppte Spiegel- und Keilkarpfen am begehrtesten. | |
## Beiboot mit Köder | |
„In Westeuropa ist Karpfen bei Anglern als Sportfisch beliebt“, heißt es | |
auf trek.zone.de. Essen sie ihn gar nicht? Mein taz-Kollege Ulf Schleth hat | |
mir mal von seinem Freund „Jens1“ erzählt: „Er war in einer wichtigen Ph… | |
seines Lebens fanatischer Karpfenfischer gewesen und hatte Zehntausende | |
Euro in seine Ausrüstung investiert, deren erstaunlichster Bestandteil aus | |
einem ‚Baitboat‘ bestand; einem ferngesteuerten Futterboot, das der | |
Karpfenangler mit dem Köder belädt, um ihn an einer geeigneten Stelle | |
auszubringen. | |
Ich lernte, dass es den richtigen Karpfenanglern gar nicht um das Essen der | |
Fische ging. Wenn der Fisch gefangen ist, wird er nicht getötet, sondern | |
gewogen, vermessen und fotografiert. Danach versorgt der Fänger die Wunde, | |
die der Angelhaken gerissen hat, mit einer Wundsalbe und lässt ihn wieder | |
frei. Den besonders widerstandsfähigen Tieren geben sie Namen. Als der | |
Karpfen ‚Benson‘ in Großbritannien starb, ein 30-Kilo-Karpfen, der in 25 | |
Jahren 63-mal gefangen worden war, versammelte sich die | |
Karpfenfischergemeinde zu einer großen Trauerfeier. In meinem Gaumen | |
breiteten sich Phantomschmerzen aus. Als Jens1 mein Gesicht sah, gab er | |
sich sinnlos Mühe, mir zu erklären, dass der Haken den Karpfen keinen | |
Schmerz bereitet.“ | |
Er war wie viele Angler der Meinung: „No brain, no pain“, was aber die | |
Fischforschung widerlegt hat. Ich sah einen Videoclip, der einen Hai zeigt, | |
den ein Taucher von einem Angelhaken im Maul befreite und der seitdem immer | |
wieder neben dessen Boot auftaucht – um sich zu bedanken. Es gibt auch | |
Clips, die zeigen, wie Enten und Schwäne sich Getreidepellets aus einem am | |
Ufer stehenden Futtertrog schnappen und damit Karpfen füttern, die bettelnd | |
um sie herumschwimmen. | |
## Heimisch seit der Eiszeit | |
Für die Anglerzeitung Blinker ist der Karpfen ein „deutscher | |
Nationalfisch“, sie fragt sich jedoch, ob er eine „invasive Art“ ist, also | |
nicht hierhergehört, was der Autor aber verneint, weil „der Karpfen | |
hierzulande bereits lange vor der letzten Eiszeit heimisch war“. An | |
weiterer Karpfenliteratur, abseits von Anglerlatein, kamen mir bisher zwei | |
Erzählungen unter: „Florian der Karpfen“ von Siegfried Lenz, die er 1948 in | |
einer Festrede anlässlich der „Wahl des Karpfens zum Fisch des | |
Jahrhunderts“ in Erinnerung brachte. Damals, nach dem abermals verlorenen | |
Krieg, fürchtete man, wie auch vor und während der Nazizeit, eine | |
bedrohliche „Eiweißlücke“ in der Volksernährung. In Lenz’ Märchen geh… | |
um den kleinen Jungen Karlchen, der sich wie die Fische im Wasser tummeln | |
möchte. Er fragt sich: „Wie man solch eine schöne, silberne Schwimmblase | |
bekommen könnte wie sie.“ Dabei soll ihm der Karpfen Florian helfen. 1941 | |
publizierte Vicki Baum mehrere Geschichten über Hunger, Krieg und Tod unter | |
dem Titel „Der Weihnachtskarpfen“. Beide Bücher wurden 2021 | |
wiederveröffentlicht. | |
Europäische Karpfen gibt es als importierte auch in Nordamerika. Sie werden | |
dort „jedoch aufgrund ihrer ungewöhnlichen Knochenstruktur kulinarisch | |
weniger geschätzt“, heißt es auf trek.zone.de. In den Gewässern frei lebend | |
gelten sie als invasive Art, bereiten dort den Behörden jedoch weniger | |
Probleme als die chinesischen Karpfen (siehe taz vom 8. 11. 2021). | |
Direkt nach dem zerstörerischen Angriff auf die „Twin Towers“ 2001 und | |
kurz vor Jom Kippur, dem jüdischen Fastentag, an dem man um Gnade betet, | |
waren die chassidischen Juden in New York noch zusätzlich in Panik geraten, | |
weil in der chassidischen Gemeinde von New Square ein Karpfen zu ihnen | |
gesprochen hatte: Er warnte die Juden, sie sollten für ihre Sünden büßen, | |
sonst geschähe ein Unglück, ein Pogrom. | |
„Anscheinend war Moshe, der Fischhändler damit beschäftigt, Karpfen zu | |
töten und auszunehmen, um die Anfragen für den Feiertag zu erfüllen, und | |
als er gerade das schwere Hackbeil auf den Kopf des Fisches sausen lassen | |
wollte, öffnete der sein Maul und eine Stimme drang aus ihm hervor. Es gab | |
Zeugen für das Ereignis, sowohl Juden als auch nichtjüdische Arbeiter des | |
Fischmarkts behaupteten, sie hätten den Fisch sprechen hören. Er stellte | |
sich namentlich vor und verkündete, dass er von Gott gesandt sei, um die | |
Juden zu ermahnen.“ | |
Das berichtet die eigensinnige („umstrittene“) Schriftstellerin Deborah | |
Feldman in ihrem Erinnerungsbericht „Unorthodox“ (2016). Die damals | |
15-Jährige lebte 2001 in einer chassidischen Gemeinde in Williamsburg (New | |
York), wollte jedoch nicht über ihre Sünden nachdenken, sondern über „die | |
wundersame Zeugenschaft eines Fisches, bevor er zum letzten Mal nach Luft | |
ringt“ – und dann beim Fischhändler zum Fastentag serviert wurde. | |
16 Jun 2025 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
## TAGS | |
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