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# taz.de -- Die Wahrheit: Kleinwüchsige Mutanten der Meere
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (218): Der nahrhafte
> Prachtfisch Kabeljau wird auch immer kleiner.
Bild: Schaut süß: Dorsch
Der Atlantische Kabeljau, auch Dorsch genannt, gehört zu den wichtigsten
Speisefischen. Wegen Überfischung sind viele Bestände inzwischen gefährdet.
Wir fuhren in den 1960er Jahren oft nach Bremerhaven, wo es schon von
Weitem nach Fisch stank. Gleich am Ortseingang befand sich eine
Fischmehlfabrik. In Bremerhaven war bis 1983 „die größte deutsche
Fischereiflotte“ stationiert. Sie befand sich zuletzt im Besitz der Firmen
Nordstern, Dr. Oetker und Nordsee – die sie dann an isländische und
chinesische Reeder verkauften. Ihre Handelsketten werden heute von der
isländischen Fischereiflotte beliefert – just in time.
Einige um die Musealisierung der Bremerhavener Fischindustrie bemühte
Wissenschaftler schreiben: „Das Kapitel Hochseefischerei ist in der
deutschen Wirtschaft im Wesentlichen abgeschlossen. Deshalb hat sich 1997
ein ‚Arbeitskreis Geschichte der deutschen Hochseefischerei‘ gebildet, der
vom Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven wissenschaftlich betreut
wird – und dazu beitragen will, die mit der Hochseefischerei verbundenen
Erinnerungen zu sammeln, zu bewahren und aufzuarbeiten.“
Zu diesem Zweck hielt man die letzten Hochseefischer an, ihre Erlebnisse an
Bord aufzuschreiben. Der ehemalige Matrose Jens Rösemann tat dies als
Brief an seinen Enkel: „Vielleicht meinst Du, dass wir Tierquälerei
betrieben hätten. So dachte ich zuerst auch. Vor allem hatte ich etwas
Angst, wenn ich vor einem Kabeljau von über einem Meter stand, der mit dem
Schwanz schlug und sein großes Maul aufsperrte. Aber so ist das in der
Natur, einer frisst den anderen. Und wir lebten nun davon, dass wir Fische
fingen. Später sah jeder von uns nicht mehr das einzelne Tier, das da an
Deck lag. Es war Geld! Davon lebten wir und unsere jungen Familien daheim.“
Fast logisch geht hier die darwinistische Weltsicht in eine
kapitalistische über – und beide legitimieren sich gegenseitig. Die
Fischer sind die einzigen Lebensmittelbesorger, die nicht säen, aber
ernten, deswegen hießen zum Beispiel die DDR-Fischrestaurants „Gastmahl
des Meeres“.
## Hans Fallada
Über die Arbeit auf den großen Fang- und Verarbeitungsschiffen der DDR
berichtete der thüringische Schriftsteller Landolf Scherzer, der sich 1977
auf der „ROS 703 ‚Hans Fallada‘ “ als „Produktionsarbeiter“ anheuer…
Die Fahrt ging nach Labrador. Die DDR hatte von Lizenzhändlern eine
kanadische Fanglizenz – mit Mengenbeschränkung – gekauft. Als man im
Fanggebiet ankam, waren dort schon zwei andere DDR-Fischereischiffe sowie
zwei polnische, ein dänisches, ein bulgarisches und vier westdeutsche.
„Die Hochseefischerei ist wie die Hatz auf Hirsche oder Wildschweine kaum
über das bloße Erbeuten hinausgekommen“, schreibt Scherzer. Die
Kabeljaubeute der „Fallada“ war jedoch diesmal so gering, dass sie es in
einem anderen kanadischen Fanggebiet mit Rotbarsch versuchten. Weil
Scherzer die Verarbeitung der Fischmassen am Fließband nicht gleichgültig
ließ, führte er manchmal Gespräche mit einem Kabeljau. Zuvor hatte er sich
auch schon mit einem im sibirischen Baikalsee lebenden Omul (einer
Lachsart) unterhalten.
Merkwürdigerweise tat das zur selben Zeit auch ein westdeutscher Dichter,
der der DKP nahestand, beide berichteten anschließend darüber in ihren
Reisebüchern. Damals hatte der „Fischfreund“ Breschnew gerade die
ökologische Rettung des Sees verfügt, erklärte dazu der Dichter.
Als die „Fallada“-Crew nach Wochen auch keine großen Rotbarschschwärme
fand, kam aus der Kombinatszentrale in Rostock die Anweisung: „Noch vier
Tage vor Labrador fischen, dann nach England dampfen und im Hafen von
Falmouth Makrelen kaufen und verarbeiten.“ Fürs Kilo zahlten sie dann 5
Mark. Auf der Weiterfahrt nach Rostock mussten die Fische an Bord noch
sortiert, gewaschen, geköpft, filetiert und gefrostet werden. In den Läden
kostete das Kilo dann 1,40 Mark. Fast schon ein staatliches „Gastmahl“.
## DDR-Fischfang
Scherzers Buch „Fänger & Gefangene“ wurde 1998 noch einmal verlegt –
ergänzt um Interviews mit seinen ehemaligen Bordkollegen, die nach
Abwicklung der DDR-Fischfangflotte fast alle arbeitslos geworden waren.
Kanadische Fischereiforscher haben unterdes festgestellt, dass der Kabeljau
im Nordostatlantik immer kleiner wird. Nach dem Krieg erreichte er noch
eine Durchschnittsgröße von 95 Zentimetern, heute nur noch 65, zudem setzt
die Geschlechtsreife des Kabeljaus bereits im Alter von sechs Jahren ein,
vor Beginn der industriellen Netzfischerei begann sie erst nach neun
Jahren.
Der Zootier-Präparator Michael Beleites, der heute mit seiner Frau eine
Gärtnerei bei Dresden betreibt, schreibt in seinem Buch „Umweltresonanz –
Grundzüge einer organismischen Biologie“ (2014) – das sich gegen Darwins
Theorie der Selektion und Mutation richtet, insofern er sie nur unter
künstlichen Zucht- beziehungsweise Laborbedingungen gelten lassen will –,
dass die Natur nicht züchte. In seinem Kapitel über den Kabeljau heißt es:
„Nun ist gewiss kaum ein stärkerer selektierender Faktor vorstellbar als
ein Netz, das mit einer bestimmten Maschenweite ganze Fischpopulationen
förmlich durchsiebt – und ab einer bestimmten Körpergröße ausnahmslos alle
Individuen ‚ausmerzt‘. Die Schleppnetze sind allerdings kein ‚natürliche…
Selektionsfaktor, auch wenn die Selektion an wild lebenden Fischen
stattfindet.“
Wenn die kanadischen Wissenschaftler von einer „kollabierenden
Kabeljaupopulation“ sprächen, dann müsse man davon ausgehen, dass sie eine
„derart umfassende Zwangsselektion auf Dauer nicht überlebt“. Die
beobachteten Veränderungen in der Population beträfen zunächst
„nichterbliche Merkmale. Fische wachsen (wie Pflanzen), solange sie leben.
Ihre Körpergröße ist also normalerweise eine Eigenschaft des Alters.“
Das „fortwährende selektive Abfischen der älteren Fische“ bewirke mithin
eine „künstliche ‚Verjüngung‘ der Bestände“. Die dadurch „begünst…
Frühreife“ müsse aber „nichts mit einer evolutiven Veränderung der Spezi…
zu tun haben“. Sie würde wahrscheinlich zurückgehen, „wenn die
Intensivfischerei beendet wird“. Es handele sich hier also eher darum,
„dass ein durch nichterbliche Umweltmodifikation in der Gesamtpopulation
verändertes Merkmal bei gleichbleibend veränderten Umweltverhältnissen
allmählich zur Erblichkeit tendiert – und nicht um den Aufbau einer neuen
Population durch eine positive Selektion von Anfang an genetisch frühreifer
bzw. kleinwüchsiger Mutanten“.
Dieses Kabeljau-Beispiel ist nur eines von vielen, anhand dessen Beleites
seine schöne, antidarwinistische „Umweltresonanz“-Theorie entwickelt
hat.
19 May 2025
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Dorsch
Überfischung
Helmut Höge
Biologie
Angeln
Tiere
Tierwelt
Osterhase
Meeresbiologie
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