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# taz.de -- Die Wahrheit: Mit Lichtblitzen auf der Jagd
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (215): Die rätselhaften
> Riesenkalmare rufen zahllose Mythen und Erzählungen hervor.
Bild: Schönes Blau aber auch!
In der ersten Ausgabe der „Systema Naturæ“ hatte Carl von Linné den
Riesenkalmar noch erwähnt, dann aber als Mythos gestrichen. Erst gegen Ende
des 19. Jahrhunderts tauchten vor Neufundland und Neuseeland etliche
Riesenkalmare auf. Fortan war sicher, dass sie existieren. Sie zählen zu
den Kopffüßern. Im Gegensatz zu den Kraken, die zu den Achtarmigen
Tintenfischen zählen, haben sie zehn Arme, wobei zwei besonders lange zu
Tentakeln umgebildet sind. Ihre normalen Fangarme erreichen eine Länge von
bis zu drei Metern, haben einen Umfang von 50 Zentimetern und tragen zwei
Reihen von Saugnäpfen, mit denen sie auch riechen und schmecken können. Zum
Beutefang dienen den Riesenkalmaren ihre Tentakel, die länger als zehn
Meter werden. Außerdem können die Tiere Lichtblitze erzeugen, die ihnen bei
der Jagd helfen.
Zur Verteidigung haben sie einen Tintenbeutel, laut Wikipedia bleibt ihre
ausgestoßene Tinte ein zusammenhängendes klebriges Gebilde und verteilt
sich nicht zu einer Wolke wie bei den anderen Tintenfischen. Gleich ihnen
kann der Riesenkalmar seine Farben verändern, um sich zu tarnen und seine
Stimmungen auszudrücken – die Naturforscherin Sy Montgomery beschreibt dies
in ihrem Buch „Rendezvous mit einem Oktopus“ 2017.
Während die Kraken nur zwei bis drei Jahre alt werden, können Riesenkalmare
bis zu fünf Jahre leben. Weil sie sich vornehmlich in einer Tiefe zwischen
300 und 1.000 Metern aufhalten, wo nur noch wenig Licht hinkommt, haben sie
sehr große Augen; „groß wie die Radkappen eines Lastwagens“, schreibt Fab…
Genovesi in seiner „Botschaft der Riesenkalmare“ (2022). Ihr Blut ist blau,
weil es statt Eisen Kupfer enthält.
Laut Wikipedia ist der Pottwal wahrscheinlich der einzige wirkliche
Fressfeind großer, ausgewachsener Riesenkalmare, wie Saugnapfnarben auf dem
Körper dieser Wale und Reste von Riesenkalmaren in Pottwalmägen zeigen. Nur
ihre steinharte Schnäbel können die Pottwale nicht verdauen. Sie
umschließen sie mit einer Art Gleitcreme und scheiden sie aus. Zunächst ist
diese weiche Masse dunkelbraun und stinkt, aber nach einigen Jahren im Meer
und der Sonne ausgesetzt wird sie hell und bekommt einen betörenden Duft.
Es ist dann Amber, der von Parfümherstellern mit Gold aufgewogen wird. In
einem Pottwalmagen wurden einmal 30.000 Kalmarschnäbel gefunden.
## In der Vergangenheit
In der Vergangenheit haben vor allem Fischer wahre Schauermärchen über die
Gefährlichkeit der Riesenkalmare erzählt, vor allem der noch riesigeren und
großäugigeren Koloss-Kalmare in der Arktis, die bis zu 14 Meter lang werden
und ganze Schiffe in die Tiefe ziehen. Die Koloss-Kalmare fressen vor allem
Kalmare – auch der eigenen Art. Genovesi meint: „Wegen ihrer riesigen
Ausmaße kommt es manchmal vor, dass sie ein oder zwei Boote versenken, aber
ohne böse Absicht und sogar, ohne es zu merken.“
Durch Einlagerung von Ammoniumchlorid „in ihrem Muskelgewebe erhalten die
Riesenkalmare wie auch einige andere Kalmare den notwendigen statischen
Auftrieb, um im Salzwasser zu schweben“, heißt es im Journal of
Experimental Marine Biology and Ecology (313/2004). Diese Auftriebslösung
verleiht den Tieren einen stechenden Ammoniakgeruch.
Ihre Vermehrung gibt noch Rätsel auf, schreibt die Frankfurter Rundschau.
„Das Weibchen produziert Eier, das Männchen Samen. Es hat einen 90
Zentimeter langen Penis. Aber wie der Samen zu den Eiern kommt, darüber
streiten sich die Gelehrten. Es scheint Weibchen zu geben, die ihre Eier in
den Armen aufbewahren. Die Männchen injizieren ihr Sperma in sie.“
## Noch ein Rätsel
Noch ein Rätsel: „Niemand weiß, wie viele Riesenkalmare es gibt. Man geht
davon aus, dass jährlich zwischen 4,3 und 131 Millionen – diese Spannbreite
macht unsere Ahnungslosigkeit deutlich – Riesenkalmare von Pottwalen
gefressen werden. Es muss Millionen und Abermillionen von Riesenkalmaren
geben. Aber nichts Genaues weiß man auch heute noch nicht.“
2004 gelangen zwei japanischen Meeresbiologen mit einer automatischen
Kamera und einem Köder in 900 Metern Tiefe vor den Ogasawara-Inseln erste
Fotos eines frei lebenden Riesenkalmars. Er „verlor einen seiner Fangarme
(Tentakel), als dieser sich am Köderhaken verfing. Die Länge des Fangarms
betrug 5,5 Meter, was auf eine Gesamtlänge des Tiers von rund acht Metern
schließen lässt.“
Der Philosoph und Teilnehmer am Wiener Tierlesekreis Luca Kieser hat mit
seinem Roman „Weil da war etwas im Wasser“ (2023) den Versuch unternommen,
einen Riesenkalmar zum Sprechen zu bringen. Er hat sich dabei von der
„Autobiografie eines Kraken“ (2024) der Wissenschaftsphilosophin Vinciane
Despret inspirieren lassen.
Sein Riesenkalmar ist eine Kalmarin, die, als man sie fing, einen ihrer
Arme verlor – sie können allerdings nachwachsen. Da die Tintenfische drei
Herzen haben und ein dezentrales Gehirn – Teile davon befinden sich in
ihren acht Armen –, lässt Kieser diese, die alle Namen haben, sprechen,
nachdem sie ein Tiefseekabel berührt haben: „In der Zeit, die wir das Kabel
umschlungen hielten, waren Daten im Umfang von mehreren Hundert Milliarden
Gigabyte unter unseren Saugnäpfen dahingerauscht. Gerade aber weil es nur
Licht war, spürten wir es als ein Glühen.“
## Die Arme
Die Arme heißen Süßer Arm, Eingebildeter Arm, Hehrer Arm, Blendender Arm,
Bisschen schüchterner Arm, Armer Arm, Halber Arm, Müder Arm. Sie sprechen
von „unserer Kalmarin“ und davon, dass ihre zwei Tentakel älter sind als
die Arme und auch „furchtloser“.
Die Arme erzählen sich auch Geschichten von den Menschen um sie herum,
unter anderem die von Sanja, einer Praktikantin auf einem Krillfangschiff,
die sich an Deck um den in einem wassergefüllten Behälter gefangenen
Riesenkalmar, den sie Ariel nennt, kümmert. Er ist bloß ein Beifang, aber
in wissenschaftlicher Hinsicht wertvoll. Nicht zuletzt, weil der
Meeresbiologe Peter Godfrey-Smith tauchend bei den Kraken „die tiefen
Ursprünge des Bewusstseins“ im Meer verfolgte. Sein 2019 erschienenes Buch
darüber ermutigte Kieser, die Arme des Riesenkalmars einfach erzählen zu
lassen.
Sanja löst die Verankerung des Behälters, und er rutscht über Bord. Die
Kalmarin ist wieder frei. Sie ist schwanger. Schon bald entdeckt man am
Meeresgrund „in Spiralen an klebrige Seide geheftete Eikapseln“. In einer
sieht man, „wie darin ein winziger Tintenfisch strampelt – so könnte die
Geschichte unserer Kalmarin enden. Doch was, wenn sich vor St. Helena nicht
unser Süßer Arm, sondern der Eingebildete Arm durchgesetzt hätte? Wenn
unsere Kalmarin dem glühenden Tentakel nicht bis vor Kapstadt gefolgt wäre,
sondern einen anderen Weg gewählt hätte?“
7 Apr 2025
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Die Wahrheit
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