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# taz.de -- 79. Theaterfestival Avignon: Bis zum Mars
> Intendant Tiago Rodrigues zeigt mit der Stückeauswahl fürs 79. Festival
> d’Avignon berührende Geschichten über Klimakrise und
> Generationenkonflikte.
Bild: Schnoddrige „Ey-sach-mal-ach-nö“-Fassung: Szene aus Ostermeiers Ibse…
Man kann auch in den Himmel schauen. In diesen Nachthimmel, der sich weit
aufspannt über der Carrière de Boulbon nahe Avignon, dem berühmten Theater
im Steinbruch. Man kann dort den Großen Wagen entdecken, der gerade
oberhalb der Felswand steht, an der Abbruchkante dieser spektakulären
Außenspielstätte des Festival d’Avignon.
Man kann mit zurückgelehntem Kopf und etwas Glück eine Sternschnuppe
entdecken und über das Universum nachdenken und darüber, ob man wirklich
bald auf dem Mars wird wohnen können. Man auch kann zur Bühne blicken.
Klar. Dort tanzen ja gerade [1][Anne Teresa De Keersmaeker] und Solal
Mariotte ihr gemeinsam entwickeltes Stück „BREL“.
Ein heller Lichtkegel und ein Standmikrofon markieren die Position des 1978
verstorbenen belgischen Chansonniers, während gut zwei Dutzend seiner
Lieder nicht nur zu hören, sondern auch als riesige Buchstabenprojektionen
auf dem Fels zu sehen sind (Lichtdesign: Minna Tiikkainen).
## Wild grimassieren und gestikulieren
Nach einem ersten Chanson – „Le Diable“ („Ça va“) – und einer kurz…
heiligen Bühnenleere nähert sich die belgische Tänzerin und Choreografin
langsam dem Lichtkegel, tritt ans Mikro und scheut zurück. Später am Abend
wird sie zu Jacques Brel – ähnlich wie er selbst – wild grimassieren und
gestikulieren, während Mariotte lässige HipHop-Moves macht. Anschließend
werden sie sich zum Walzer umarmen und ein paar absichtslos wirkende
Choreografien performen, um sie gleich wieder abzubrechen.
Vermutlich will dieses Andeuten und Abbrechen nicht mehr sein als eine
Annäherung an diese große Legende, tatsächlich aber wirkt das lose Gefüge
bald albern, bald beliebig, bald seltsam introvertiert. Ist man Brel-Fan,
hält man das aus, wünscht sich ihn am liebsten jetzt sofort und live auf
diese Bühne zurück oder schaut einfach wieder in den Sternenhimmel.
Womöglich sogar in Richtung Mars.
Dorthin wiederum ist Amina ausgewandert, eine der beiden Figuren in dem
Science-Fiction-Drama „La Distance“. Verfasst und auf die Bühne gebracht,
hat es [2][Tiago Rodrigues], der seit 2023 das südfranzösische Festival als
künstlerischer Leiter verantwortet. Sein Stück spielt im Jahr 2077 und
erzählt von einer nahezu unbewohnbar gewordenen Erde und von einer
Marsmission, die den Roten Planeten mit ersten Freiwilligen besiedeln will.
## Sprechnachrichten im Weltraum
Allein mittels Sprachnachrichten können sich der auf der Erde lebende
Helikoptervater (Adama Diop) und die längst erwachsene, in einem
Versuchslabor auf dem Mars wohnende Tochter (Alison Dechamps) verständigen.
Mit diesem geschickten Stückaufbau, mit dem Austarieren von Nähe und
Distanz, von Monolog und Dialog gelingt Rodrigues eine spannende Parabel
nicht nur über die Klimakrise und Generationenkonflikte, sondern auch über
Liebe, Leben und Verlust.
Eindringlich erspielen sich Dechamps und Diop ihre Figuren, geben deren
Wünschen, Sehnsüchten und Konflikten bald mehr und mehr emotionalen Raum.
Natürlich dreht sich die Drehscheibenbühne – zwei abgestorbene Bäume gibt
es vom Ausstatter Fernando Ribeiro obendrauf – gegen Ende immer schneller,
wird das Licht bald apokalyptisch dunkel und kommt jede Menge
unfreundlicher Nebel auf. Doch diese konventionellen und recht
vorhersehbaren Bühnenmittel sind verzeihlich vor der Folie dieses klug
komponierten und aktuelle Diskurse verhandelnden Stücks.
Dass Rodrigues selbst, nachdem er verkündet hatte, in der diesjährigen
Ausgabe Arabisch als „Gastsprache(n)“ zuzulassen, in den Fokus öffentlicher
Diskurse geraten würde, wurde ihm von zahlreichen Kolleg*innen
prophezeit. Schließlich bedeutet diese Neuerung auch – mal abseits von
allem Entzücken über die Kunst- und Sprachvielfalt –, sich mit autoritären
Staaten und/oder Krieg führenden Ländern zu beschäftigen.
## Über die Welt mit Kunst sprechen
„Wir versuchen nicht, die Komplexität der aktuellen Krisen zu verleugnen“,
konstatiert Rodrigues dazu in einem Interview mit dem französischen
Musikmagazin Les Inrockuptibles und ergänzt: „Wir werden uns ihnen
stellen, aber wir bleiben dem Festival treu, indem wir über die Welt durch
die Kunst sprechen.“
In Zahlen heißt das: Zehn von insgesamt 42 Produktionen sind während des
Festivals in der „Gastsprache Arabisch“ zu sehen – und zwar aus sieben
arabischen Ländern. Dazu gehören etwa „Voix de femmes“, [3][eine
musikalische Hommage an die 1975 verstorbene ägyptische Sängerin Umm
Kulthum]; „Nour“, eine Koproduktion mit dem Institut du monde arabe in
Paris, das als „vielstimmige Feier der arabischen Sprache(n)“, angekündigt
wird.
Oder Mohamed Toukabris „Every – Body – Knows -What - Tomorrow -Brings –
And – We -All- Know – What – Happened – Yesterday“. Der tunesisch-bel…
Tänzer und Choreograf Toukabri verhandelt in seinem einstündigen Solo, das
auch während der [4][diesjährigen Ruhrtriennale] in Deutschland zu sehen
sein wird, Fragen von Identität und Herkunft, variiert suchende Bewegungen
mit fordernden Urban-Dance- und HipHop-Scores.
## Flirrende Sounds
Zu flirrenden Sounds spricht eine weibliche Stimme aus dem Off mal
Englisch, oft Arabisch, was Toukabri mit so sympathischen, aber auch so
eindeutigen Textprojektionen wie „There will be no translation“ und „Do y…
want me to be understandable or do you want me to be me?“ kommentiert.
Man ahnt, dass der junge Tänzer eine Zerreißprobe zwischen Anpassung und
Verstellung auf die Bühne bringen wollte, doch auf der Bühne bleibt dies
viel zu vage. Gäbe es allerdings einen Preis für den außergewöhnlichsten
Stücktitel, würde ihn Toukabri allemal gewinnen.
Einen deutlich vertrauteren Titel und auch einen sehr vertrauten
Schaubühnen-Ton findet man in [5][Thomas Ostermeiers] Inszenierung von
Ibsens „Wildente“. Schnoddrig spielt das Ensemble eine
„Ey-sach-mal-ach-nö“-Fassung, die Maja Zade und Ostermeier erstellt haben.
Stefan Stern hat diesen lässigen Duktus am tiefsten inhaliert, zum
Schaudern grandios ist seine Verkörperung des Hjalmar Ekdal.
## Schlaff, aber raumgreifend
Schlaff und dennoch raumgreifend macht er aus ihm – trotz vorhandener
Gitarre – einen labilen Luftgitarristen. Auch an Magdalena Lermer als
ernsthafter und zutiefst verletzter Hedvig bleibt man dran, erlebt man
durch diese genaue Schauspielerin doch eine Figur, die bis zum Ende des
Stücks ihr Geheimnis bewahrt.
Auf ein paar sehr verquatschte Passagen wiederum, etwa seitens des
Wahrheitscoaches Gregers Werle (in herrlich gewaltfreiem Sprechduktus:
Marcel Kohler), hätte Ostermeier gern verzichten können, besser noch auf
die klassistischen Darstellungen seiner Hartz-IV-Ekdals inklusive pink
gefärbter Haarsträhne, Jogginghosen und Margarine statt Butter.
Das Festivalpublikum verzeiht es ihm[6][,] mehr noch, es bejubelt die zu
bejubelnden Spieler*innen und auch diese doch etwas vordergründig
geratene, um Gegenwartsbezug bemühte Inszenierung.
## Wo bleibt der Shuttle-Service?
Dass man womöglich die innovativsten, streitbarsten und schrägsten
Performances verpasst hat – warum eigentlich gab es bei den so gut
organisierten Festivaltransfers keinen Shuttle zu [7][Milo Raus]
Community-Stadtrandprojekt „La Lettre“? –, gehört zu den
Begleiterscheinungen eines jeden und erst recht dieses mit etwa 17
Millionen Euro Budget ausgestatteten Theaterfestivals.
Genauso wie manche kuriose Nebenperformance, etwa wenn das aufmerksame
Festivalpersonal die Kassenschlange zu einer minutenlangen Polonaise
animiert (um die Wartenden auf die Schattenseite des Platzes zu
manövrieren) oder wenn sich zwei Kartäusermönche in Kutte und mit
baumelnden Rosenkränzen vollkommen weltlich durchs Festivalprogramm
diskutieren oder drei ältere, zarte Theaterbesucher beherzt einen der
öffentlichen Wasserspender in gefährliche Schieflage bringen, um noch den
allerletzten Tropfen kostbaren Nasses aus ihm herauszuholen.
Dann führt das Leben selbst Regie, werden die Zuschauer*innen zu
Figuren, erzählt das Festival d’Avignon sein ganz eigenes Episodendrama –
zwischen Himmel und Hitze, zwischen Carrière de Boulbon, Croissants und
Chansons.
20 Jul 2025
## LINKS
[1] /Choreografie-zu-Vivaldi/!6043784
[2] /Internationales-Theaterfestival/!6003264
[3] /Gedenkjahr-fuer-Umm-Kulthum-in-Aegypten/!6074265
[4] https://www.ruhrtriennale.de/en/programme/every-body-knows-what-tomorrow-br…
[5] /Die-Moewe-in-London/!6071452
[6] /Ostermeiers-Hamlet-in-Avignon/!5178788
[7] /Kulturfestival-in-Wien/!6088408
## AUTOREN
Katrin Ullmann
## TAGS
Festival
Politisches Theater
Schwerpunkt Frankreich
Gedenken
Deutsches Theater
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