# taz.de -- Ostermeiers "Hamlet" in Avignon: Terrorist aus der Familienzelle | |
> Im Papstpalast von Avignon inszeniert Thomas Ostermeier "Hamlet" als | |
> Politshow in einer kranken Gesellschaft. Auch ein Chanson von Carla Bruni | |
> darf nicht fehlen. | |
Bild: In Thomas Ostermeiers "Hamlet"-Inszenierung verkörpert die Schaupielerin… | |
Gegensätze ziehen sich an. Als Thomas Ostermeier im Jahr 2004 als erster | |
Deutscher seinen "Woyzeck" im Papstpalast von Avignon zeigen durfte, | |
verwandelte er die majestätischen Zinnen in eine Plattenbausiedlung. Nun, | |
nachdem er sogar im mythischen Herzstück des französischen Theaters | |
inszenieren darf, macht er die lauschige Provence-Nacht zum herbstlichen | |
Regeninferno. | |
Ein atemberaubender Auftakt: Es schüttet aus dem Gartenschlauch, die Bühne | |
ist ein offenes Grab. Zusehends verwandelt sich der aufgeschüttete Torf in | |
Matsch, über den die Hofgesellschaft auf dieser tristen dänischen | |
Beerdigung stolpert und schlittert. | |
Und während sich der Beerdigungssound zum wüsten Techno-Dröhnen steigert, | |
kämpft der Totengräber in einem absurden Slapstick mit dem Sarg, er fällt | |
ins Grab, er taucht wieder auf. Der Sarg scheint lebendig zu werden und | |
sich mit aller Macht gegen die Grablegung zu wehren: der König, ein | |
Untoter. Das alte System will einfach nicht untergehen. Noblesse oblige, | |
mit versteinerten Gesichtern ignoriert die Hofgesellschaft das Chaos und | |
schreitet zur nächsten Festlichkeit, der Hochzeit von Gertrud und Claudius | |
am eilig nach vorne gefahrenen Tisch. | |
Ganz machtbewusste Königinnengattin haucht Judith Rosmairs Gertrud als | |
blondiertes It-Girl engelsgleich ein Lied von Carla Bruni ins Mikro ("die | |
Liebe ist nichts für mich, nur ab und zu, sie nähert sich einfach so"). Da | |
geht ein Raunen durch die Zuschauerreihen, Szenenapplaus. | |
Die Politik ist nur Showbusiness, deutlicher als im heutigen Frankreich ist | |
das noch nie zu Tage getreten: Ständig berichtet die Presse über die | |
brutalen Preissteigerungen unter Sarkozy, während Carla Bruni penetrant von | |
den Titeln der Frauenzeitschriften grinst. | |
Allerdings ist es auch eine Show, in der es zuweilen um echte Leichen geht. | |
Und darum sitzt Lars Eidingers Hamlet wie ein bockiges, dickliches Kind mit | |
einer Dose Bier auf dem Boden und spuckt in die Suppe. Die Geister, die ihn | |
verfolgen, sind auf einen goldenen Perlenvorhang projiziert: Da verwandelt | |
sich der schöne Schein des Hofes in zuckende, verzerrte Abbilder der | |
Realität. Denn der Abgrund der Wirklichkeit hat sich aufgetan wie ein Riss | |
in der Mauer. "Sein oder Nicht-Sein" ist keine ernsthafte Frage mehr, | |
sondern nur noch der verwirrte Kommentar darauf, dass alle Grundfesten aus | |
den Fugen geraten sind: die Familienwerte ebenso wie die vermeintlichen | |
Werte des Abendlands. | |
Lars Eidinger stürzt sich in den Wahnsinn, als hätte er jahrelang | |
Krankheitssymptome studiert. Er hat Sprachticks, frisst Erde, tanzt auf dem | |
Tisch, brüllt "Ficken, Ficken, Ficken", rast mit rollenden Augen die Ränge | |
hoch, wo ihn 2200 Zuschauer ungläubig ansehen. Er spielt die anderen fünf | |
Mitspieler, auf die Ostermeier "Hamlet" reduziert, glatt an die Wand: den | |
machtbewussten, cholerischen Zwerg Polonius (Robert Beyer), den bärtigen, | |
distinguierten Claudius, der zugleich der Geist ist (Urs Jucker), der | |
resolute und bodenständige Laertes (Stefan Stern) - selbst Gertrud/Ophelia, | |
die Judith Rosmair mit schlichten Perückenwechseln gleichzeitig verkörpert | |
und mal kindlich zart, mal präsidentengattinnenhaft cool zeigt. | |
Bei Hamlets Amoklauf scheint ohnehin egal, ob er gerade die Mutter oder die | |
Fast-Geliebte auf dem Erdhügel vergewaltigt und in Torf begräbt. Wie auch | |
unwichtig scheint, wer gerade wen genau spielt - in dieser Polit-Show sind | |
alle Rollen austauschbar, nur erfüllt müssen sie werden. | |
Gleichzeitig ist es eine gallige Auseinandersetzung mit dem Theater und | |
seinen Mitteln, die doch spektakulär ausgestellt werden: der Regen aus dem | |
Schlauch, das Blut aus der Ketchupflasche und natürlich die wunderschönen | |
Videos, die als Hamlets Kopfstimmen zucken, von ihm selbst gefilmt. | |
"Theater, Theater", brüllt Eidinger den Katja-Ebstein-Schlager verächtlich. | |
Man hat ihn noch nie so gesehen: Ein Rasender, voller Welt-, Selbst- und | |
Theaterekel. Denn er hat den Blick auf die Wirklichkeit nicht verloren, | |
sondern im Gegenteil krankhaft geschärft: Verrückte sehen die Welt nicht | |
falsch, sondern zu klar, sie beherrschen den verschwommenen und | |
selbstberuhigenden Blick der "Gesunden" nicht. | |
Trotzdem löst sich das Versprechen des Beginns in den fast drei Stunden | |
nicht ein. Denn Hamlet bleibt ohne Entwicklung, ein bis zur Ermüdung | |
erzähltes Krankheitssymptom, die Analyse eines Zustands. Ein ekelhafter | |
Typ, zutiefst unsympathisch: im quietschbunten Hawaiihemd, krawallig, ein | |
pubertierendes Gör, das seinen Gemütszustand der Welt aufdrückt. Ein | |
Terrorist aus der Familienzelle, der schnell jedes Ziel aus den Augen | |
verliert und in einer einzigen - wenn auch hochenergetischen - Dimension | |
bleibt, weit entfernt von den vielschichtigen Charakterabgründen einer | |
Hedda Gabler oder Maria Braun. | |
Die unterkühlte Neuübersetzung von Marius von Mayenburg trägt ebenfalls | |
dazu bei, den Zuschauer merkwürdig unbeteiligt zu lassen. Der Applaus im | |
Papstpalast ist daher verhalten, die Kritiken sind es auch: "Vielleicht ist | |
dieser Hamlet zu gespannt erwartet worden", schreibt Le Monde, und für | |
Liberation hat das Stück an Poesie, Substanz und Rätselhaftigkeit verloren. | |
La Provence beschränkt sich darauf, negative Zuschauerstimmen zu sammeln: | |
"Langweilig", "unreif", "anstrengend" heißt es da. Doch das ist nicht wahr, | |
denn Ostermeier destilliert aus Hamlet einen neuen, zutiefst gegenwärtigen | |
Aspekt heraus: Sie zeigen das Krankheitsbild einer Jugend, hyperaktiv, | |
quälend hellsichtig, aber tatenlos und entscheidungsunfähig. Vielleicht | |
hätte es mehr Zeit gebraucht, um weitere Tiefen auszuloten. Vielleicht sind | |
Ostermeier Frauenfiguren einfach noch ein wenig näher. | |
18 Jul 2008 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Marcus | |
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