# taz.de -- Anita Lasker-Wallfisch feiert Geburtstag: „Du wirst gerettet werd… | |
> Anita Lasker-Wallfisch, Cellistin und Überlebende des Mädchenorchesters | |
> von Auschwitz, feiert ihren 100. Geburtstag in London. | |
Bild: Anita Lasker-Wallfisch, 2023 | |
Sie kann kaum glauben, dass sich an dem höllischsten aller Orte jemand für | |
ihre Musikalität interessiert. Die Haare abrasiert, die Nummer 69388 auf | |
den linken Arm tätowiert, nackt steht Anita Lasker-Wallfisch da, als eine | |
Mitgefangene auf sie zukommt. Ihr sei berichtet worden, dass sie Cello | |
spielt. | |
„Das allerletzte, das ich je erwartet hatte, als ich nach Auschwitz kam, | |
war eine Unterhaltung über mein Cellospiel!“, schreibt Lasker-Wallfisch | |
mehr als 50 Jahre später in ihren Memoiren ([1][„Ihr sollt die Wahrheit | |
erben. Die Cellistin von Auschwitz“]). | |
Es ist die österreichische Violinistin Alma Rosé, die im KZ kurz nach ihrer | |
Ankunft Ende 1943 auf sie zukommt, beide werden später gemeinsam im | |
sogenannten Mädchenorchester von Auschwitz spielen. „Du wirst gerettet | |
werden“, sagt Rosé zu ihr. | |
Sie behielt recht. Anita Lasker-Wallfisch hat überlebt, und sie lebt noch | |
immer. Am Donnerstag feiert sie ihren 100. Geburtstag in der Wigmore Hall | |
in London – mit einem großen Festkonzert. Die Überlebenden, schreibt sie in | |
ihrer Biografie, seien „eine Rasse für sich“, „außer einigen Einzelheit… | |
bleibt alles unauslöschlich im Gedächtnis; es gebe „Menschen, die ‚wissen… | |
und Menschen, die ‚nicht wissen‘.“ | |
## Anita Lasker-Wallfisch hat überlebt | |
[2][Lasker-Wallfisch hat eine Verantwortung als Überlebende gespürt], sie | |
hat in den vergangenen Jahrzehnten in Schulen und vor Jugendlichen über | |
ihre Erfahrungen und über den Holocaust gesprochen. | |
Anita Lasker-Wallfisch stammt aus einer jüdischen Familie in Breslau, heute | |
Wrocław. Am 17. Juli 1925 kommt sie auf die Welt, schon als Kind lernt sie | |
das Cellospiel. In Breslau wird es nach der Machtübernahme des NS-Regimes | |
1933 immer schwieriger, als jüdisches Kind unterrichtet zu werden, sie geht | |
nach Berlin zum Musiklernen. | |
Nach den Novemberpogromen 1938 kehrt sie nach Breslau zurück. Sie und ihre | |
Schwester Renate müssen Zwangsarbeit in einer Papierfabrik leisten. Ihrer | |
älteren Schwester Marianne Lasker gelingt bereits vor Kriegsbeginn die | |
Flucht nach London. Auch Anita und Renate versuchen zu fliehen, die Gestapo | |
verhaftet beide 1942 in Breslau. Sie kommen zunächst ins „Zuchthaus“, | |
werden dann nach Auschwitz deportiert, als Anita gerade 18 Jahre alt ist. | |
## Perversion Auschwitz | |
[3][Zur Perversion Auschwitz] gehören auch die Häftlingsorchester und das | |
Mädchenorchester. Lasker-Wallfisch und ihre Mitmusikerinnen spielen am | |
Lagertor Märsche für die Gefangenen, die in den umliegenden Fabriken | |
arbeiteten, geben Sonntagskonzerte, müssen auftreten, um das SS-Personal zu | |
unterhalten. | |
Die „Träumerei“ von Schumann habe sie für Josef Mengele spielen müssen, | |
erinnert sich Lasker-Wallfisch, damit dieser sich von den „,Strapazen' der | |
Selektionen“ habe „erholen“ können. Doch Lasker-Wallfisch wird gebraucht… | |
Auschwitz, war nützlich in der Denke der NS-Ideologie, was ihr wohl das | |
Leben rettete. | |
Als die sowjetischen Truppen näherrücken, werden beide Schwestern nach | |
Bergen-Belsen verbracht, wo sie bis zur Befreiung im April 1945 bleiben. | |
Zum Unterschied zwischen beiden KZs sagt sie [4][in einer Rede vor dem | |
Deutschen Bundestag zur Befreiung von Auschwitz im Jahr 2018]: „In | |
Auschwitz hat man Menschen auf die raffinierteste Art und Weise en gros | |
ermordet. In Belsen ist man ganz einfach krepiert.“ Anita Lasker-Wallfisch | |
ist eine der ersten, die der BBC Interviews nach der Befreiung von Belsen | |
gibt. Die Auschwitz-Häftlingen fürchteten, die Welt werde nicht glauben, | |
was sie dort erlebt hätten, sagt sie da. | |
Nach der Befreiung verbringt Anita Lasker-Wallfisch eine Weile in Brüssel, | |
wo sie die Musik wieder lieben lernt. „Ich ging sehr viel in Konzerte, | |
manchmal zweimal am Tag. (…) Ich war ausgehungert nach Musik“, schreibt sie | |
in ihrer Biografie. | |
Anita und Renate Lasker-Wallfisch überleben – anders als ihre Eltern, die | |
1942 ins polnische Durchgangsghetto Izbica deportiert und wohl dort | |
ermordet wurden. Die Schwestern gehen nach dem Krieg ins geliebte England. | |
Anita Lasker-Wallfisch lebt fortan in London, sie studiert an der Londoner | |
Guild Hall School of Music, wird Gründungsmitglied des renommierten English | |
Chamber Orchestra. Sie heiratet den Pianisten Peter Wallfisch (1924-1993), | |
aus der Ehe gehen ihre Kinder Raphael und Maya hervor. Lange schweigt Anita | |
Lasker-Wallfisch über das Geschehene, auch gegenüber ihren Kindern. Erst | |
Ende der 1980er Jahre übergibt sie ihre schriftlichen Erinnerungen an sie. | |
## Warnung vor Judenhass | |
Anita Lasker-Wallfisch bleibt sehr lange gesund, vor einem halben Jahr | |
[5][hat sie laut ihrer Tochter Maya einen schweren Unfall gehabt und wird | |
rund um die Uhr gepflegt]. Gewarnt hat sie immer wieder vor dem | |
wiedererstarkenden Hass auf Jüdinnen und Juden. Was sie in ihrer | |
Bundestagsrede vor sieben Jahren sagte, ist zeitlos: „Was den wieder | |
aufblühenden Antisemitismus betrifft – fragen Sie sich: Wer sind eigentlich | |
diese Juden? Warum findet man sie überall? Vielleicht, weil sie vor | |
zweitausend Jahren aus ihrer Heimat in alle Welt vertrieben wurden und | |
immer wieder irgendeinen Platz gesucht haben, wo sie hofften in Frieden | |
leben zu können, nicht ermordet zu werden.“ | |
An ihrem letzten Tag als Teenagerin, im Juli 1945, schickt Anita | |
Lasker-Wallfisch ihrer Schwester Marianne einen Brief. „Heute ist mein | |
letzter Tag 19. Nun werde ich nie wieder eine 1 als erste Zahl haben (falls | |
ich nicht 100 Jahre alt werde)“, schreibt sie darin. | |
Wie wunderbar und erfreulich, dass es nicht die letzte „1“ geblieben ist. | |
Congratulations and all the best, Mrs. Lasker-Wallfisch! | |
17 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.rowohlt.de/buch/anita-lasker-wallfisch-ihr-sollt-die-wahrheit-e… | |
[2] /Trauerfeier-fuer-Margot-Friedlaender/!6084779 | |
[3] /Zeichnerin-ueber-Holocaust-Projekt/!6086825 | |
[4] https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2018/kw05-nachbericht-gedenks… | |
[5] https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/eine-heldin-wider-willen/ | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
## TAGS | |
Shoa | |
Holocaustüberlebende | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
GNS | |
wochentaz | |
Erinnerungskultur | |
Bergen-Belsen | |
Holocaustüberlebende | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Jiddische Zeitungen nach 1945: „Mir zuchn Krojwim“ | |
Zwischen 1945 und 1950 blühte ein spezielles Pressewesen im Land der Täter | |
auf: 150 verschiedene Titel erschienen für ca 200.000 jüdische Überlebende. | |
Auschwitz-Komitee hat neue Präsidentin: Power für die Brandmauer | |
Das Internationale Auschwitz Komitee vertritt Holocaust-Überlebende aus 19 | |
Ländern. Nun wurde Eva Umlauf zu seiner neuen Präsidentin gewählt. | |
Zeichnerin über Holocaust-Projekt: „Eine Zeichnung kann skizzenhaft und dabe… | |
Barbara Yelin hat die Erinnerungen der KZ-Überlebenden Emmie Arbel in | |
Zeichnungen festgehalten. Zu sehen sind sie in der Gedenkstätte | |
Bergen-Belsen. | |
Trauerfeier für Margot Friedländer: „Nur, wenn wir sie nicht vergessen“ | |
Margot Friedländer wurde in Berlin beigesetzt. Am Ende ihres Lebens war die | |
Holocaust-Überlebende verzweifelt über den Judenhass auf deutschen Straßen. |