Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Jiddische Zeitungen nach 1945: „Mir zuchn Krojwim“
> Zwischen 1945 und 1950 blühte ein spezielles Pressewesen im Land der
> Täter auf: 150 verschiedene Titel erschienen für ca 200.000 jüdische
> Überlebende.
Bild: „Undzer Weg“ ist da: begierig saugen die jungen Leserinnen die neuest…
Berlin taz | Der Historiker Arno Lustiger war Redaktionsmitglied der
jiddischen Zeitung Unterwegs. „Der Name war natürlich programmatisch, er
entsprach unserer Situation, nach der Befreiung aus den Lagern waren wir
unterwegs, denn im Land der Täter wollte niemand bleiben“, erinnerte sich
Lustiger. Er hatte mehrere Konzentrationslager überlebt und war in
Frankfurt gestrandet, wo er eine Zeitlang im Camp Zeilsheim für jüdische
Displaced Persons (DP) untergebracht war.
In diesem hessischen Auffanglager waren rund 3.000 Überlebende der Shoa
einquartiert, die jahrelang auf ihre Auswanderung nach Palästina (der
jüdische Staat wurde erst 1948 gegründet), in die USA, nach Kanada oder
Australien warteten.
Insgesamt lebten in den ersten drei Nachkriegsjahren bis zu 200.000 Juden,
die sich mit dem hebräischen Namen „Scheerit HaPlejta“ (Rest der
Geretteten) bezeichneten, im besetzten Westdeutschland. In dieser Zeit
entwickelte sich in den zahlreichen DP-Camps eine Renaissance des nahezu
vernichteten osteuropäischen Lebens: eigene Schulen, Sportvereine,
Parteien, Theater und Zeitungen wurden gegründet.
## Auferstehung der Toten
Die erste Zeitung erschien bereits am 4. Mai 1945, mit dem eindeutigen
Titel Tkhiyes HaMeysim (Auferstehung der Toten). Jüdische Überlebende aus
dem KZ Buchenwald produzierten dieses sechsseitige, noch handschriftlich
gefertigte Blatt.
Unter der Titelzeile „Farwos a Cajtung?“ – warum eine Zeitung – schrieb
Initiator Mordechai Schtrigler, der spätere langjährige Redakteur des in
New York verlegten jiddischen Forverts, dass dies ein „Weckruf für die
wenigen Übriggebliebenen“ sei und mit der Zeitung der „Anfang einer sich
neu entwickelnden Presse, die würdig sein soll, die Fahne der jüdischen
Kultur zu tragen“, gemacht wäre.
Schon in der Zeit der Verfolgung waren zeitungsartige Blätter kursiert, wie
etwa die im Dachauer Außenlager Kaufering bis April 1945 in hebräischer
Sprache verfasste Flugschrift Nitzoz (Der Funke).
## Zuerst Hektografier-Apparate, dann Druckmaschinen
Nach der Befreiung benutzte man Hektografier-Apparate, bis einige Monate
später endlich professionelle Druckmaschinen zur Verfügung standen. Das
erste regelmäßig produzierte Blatt war die im DP-Camp Bergen-Belsen
verlegte Zeitung Undzer Sztyme (Unsere Stimme). Die zwölf Seiten
umfassende, noch mit der Hand auf Matrizen geschriebene und vervielfältigte
Nummer erschien am 12. Juli 1945. Ab der fünften Ausgabe standen hebräische
Lettern zur Verfügung.
Im Herbst ging es dann Schlag auf Schlag. Am 4. Oktober erschien Dos fraje
Wort im DP-Camp Feldafing, vier Tage später die Landsberger Lager Cajtung,
mit der treffenden Schlagzeile „Jidisz Wort, mit unz bist du geworn
bafrajt“, und am 12. Oktober Undzer Weg, das Organ des Zentralkomitees der
befreiten Juden in Bayern.
Inzwischen hatten sich sowohl in der britischen wie auch in der
amerikanischen Besatzungszone demokratisch legitimierte Gremien der
jüdischen Überlebenden in den Camps gebildet, an deren Spitze die
jeweiligen Zentralkomitees standen. Der Wunsch nach einem öffentlichen
Medium, um sich Gehör zu verschaffen, und der Durst nach Informationen
führte dazu, dass zwischen 1945 und 1948 die Zahl der DP-Zeitungen,
-Magazine und -Mitteilungsblätter auf rund 150 Titel anwuchs, die zumeist
in jiddischer Sprache berichteten.
Da es anfangs nicht genügend hebräische Lettern gab – Jiddisch wird in
hebräischen Buchstaben geschrieben –, wurden die Texte in lateinischen
Lettern nach polnischer Phonetik gesetzt. Aber es gab auch einige wenige
jüdische Zeitungen in polnischer, hebräischer, deutscher oder ungarischer
Sprache: in Bamberg etwa A Mi Szavunk (Unser Wort) und im DP-Kinderlager
Kloster Indersdorf Uj Elet (Neues Leben).
## Wünsche, Hoffnungen, Zustandsbeschreibungen
Die Namen der jiddischsprachigen Blätter spiegelten die Wünsche und
Hoffnungen sowohl der Leser als auch der Macher wider, waren oft
Zustandsbeschreibungen, wie die Titel Undzer Mut, Undzer Hofenung, Der naje
Moment verdeutlichen, oder gaben Ziele an: Tsum Zig oder Ba Derech (Auf dem
Weg).
Besonders wichtig war die Rubrik „Mir zuchn Krojwim“; unter diesem Titel
wurde nach Angehörigen gesucht oder die Nachricht vom eigenen Überleben
mitgeteilt, wie folgende Kleinanzeige aus der Landsberger Lager Cajtung
dokumentiert: „Judel Goldblat befindet sich im Lager Landsberg und sucht
Jakew Kacew aus Kowno, der im KZ Stutthof war.“
Die Zeitungen reflektierten und thematisierten aber auch das bunte
politische, kulturelle und soziale Leben des osteuropäischen Schtetls –
jedoch stets verbunden mit einem positiven Blick in die Zukunft in einem
eigenen Staat.
Neben den allgemeinen überparteilichen und zumeist wöchentlich
erscheinenden Gazetten gaben die verschiedenen politischen Organisationen
eigene Publikationen heraus: die Linkszionisten vom Haschomer Hazair etwa
Ojf der Wach, die Rechtszionisten der Organisation Betar Der Emes (Die
Wahrheit) und die religiösen Zionisten Di jidisze Sztime.
## Literatur un Kritik, Technik un Arbet
Die jüdische Presselandschaft wurde weiterhin durch Fachmagazine
bereichert, wie zum Beispiel die Bleter far Literatur un Kritik für den
Kulturbereich. Über Berufsbildung informierte Technik un Arbet,
beziehungsweise Der Landwirtszaflteche Wegwajzer, während im Mittelpunkt
der äußerst beliebten Jidiszen Sport Cajtung die Spiele und Vereine der
jüdischen Fußball-Ligen standen. Neben einer 1. Division und fünf
Regional-Ligen kickten über 80 Mannschaften um Meisterschaft sowie Auf- und
Abstieg.
Das Endspiel um die jüdische Fußballmeisterschaft in der US-Zone fand am
29. November 1947 im Münchner Stadion an der Grünwalder Straße statt – vor
rund 5.000 Zuschauern. Das Team von Ichud Landsberg schlug die Elf aus
Frankfurt, Hasmonea Zeilsheim, deutlich mit 3:0. „Es lebe der jüdische
Sport in unserem eigenen Staat“, jubelte die Jidsisze Sport Cajtung. An
diesem 29. November hatte nämlich die UN-Vollversammlung die Teilung des
britischen Mandatsgebiets Palästina in einen jüdischen und einen arabischen
Staat beschlossen.
Obwohl mit der Ermordung von sechs Millionen Juden die jiddische Sprache
nahezu ausgerottet war, hatte sie und das jiddischsprachige Zeitungswesen
eine kurze und überraschende Wiedergeburt erfahren. Denn das Idiom war
„lingua franca“ und wurde von allen osteuropäischen Juden verstanden. Die
jiddische Sprache drückte aber auch die nationale Zugehörigkeit zu einem
jüdischen Volk aus. Man war nicht mehr Pole, Russe, Tscheche, Ungar,
sondern Jude. Die Blätter waren zudem streng zionistisch ausgerichtet.
Das Geschehen in Palästina, etwa der Untergrundkampf der jüdischen Miliz
Hagana und ihre Bemühungen, die jüdische Einwanderung ins Gelobte Land zu
forcieren, nahm daher breiten Raum ein. Immer wieder beharrten die
Journalisten auf einer sofortigen, unbegrenzten freien Einreise aller Juden
nach Erez Israel, dem Land Israel. „Wir wollen unsere eigene Heimat. Wir
haben ein Recht darauf“, forderte Unterwegs im April 1946. „Wir hoffen,
freie Bürger im Land unserer Vorväter, in Palästina zu werden.“
## „Ein Volk wie alle anderen Völker“
Der Besuch von [1][David Ben-Gurion] in den DP-Camps nahm daher auch
breiten Raum in der Berichterstattung ein. Der spätere erste israelische
Ministerpräsident erschien vielen Juden wie ein Prophet, wie Moses, der die
Israeliten aus der Knechtschaft führte. „Warum lasst ihr uns Juden nicht
ein Volk sein, wie alle anderen Völker“, zitiert etwa die Jidisze Cajtung
aus einer Rede von Ben-Gurion. „Es muss ein Land in der Welt geben, in dem
die Juden die Mehrheit haben – und dieses Land ist Erez Israel.“
Da in der Nachkriegszeit Papier Mangelware war, verfügte die
US-Militärverwaltung im Sommer 1946, dass die DP-Zeitungen (inklusive
Bücher) vierteljährlich 50 Tonnen Papier erhalten sollten. Die Auflagenhöhe
der einzelnen Zeitungen wurde begrenzt. Das Organ des Zentralkomitees,
Undzer Weg, durfte 30.000 Exemplare drucken, die anderen Camp-Blätter
jeweils maximal 7.500.
Damit konnten wöchentlich nur 60.000 Exemplare der gesamten DP-Presse
produziert werden. Aus diesem Grund entschloss sich die
jüdisch-amerikanische Hilfsorganisation Joint, zusätzliches Papier
anzukaufen, und sicherte so das Erscheinen der vielfältigen jiddischen
Presse.
Da bereits einige deutsche Zeitungen von den Militärbehörden lizenziert und
ihre Druckereien funktionstüchtig waren, mussten diese auch die
jiddischen Blätter herstellen. A Heim, die Zeitung für das Camp im
bayrisch-schwäbischen Leipheim, etwa wurde beim Volksblatt in Günzburg
gedruckt. Die Zeitschrift [2][Fun letstn Churbn (Von der letzten
Zerstörung)], die sich ausschließlich der Dokumentation der Shoa sowie der
Aufarbeitung der NS-Verbrechen widmete, wurde in der früheren Druckerei des
Völkischen Beobachters in München gedruckt.
## Seelsorge, Mut und ein neues Lebensgefühl
Was die Funktion und Bedeutung der jiddischen Presse im Land der Täter
ausmachte, bringt ein Zitat von Robert Weltsch, Chefredakteur der bis 1938
erschienenen zionistisch orientierten Jüdischen Rundschau auf den Punkt:
„Die Zeitungen waren das einzige Werkzeug, das in einer fast seelsorgerisch
zu nennenden Rolle den Beraubten und Verfolgten, den Erniedrigten und
Beleidigten Mut zusprechen und ihnen ein neues Lebensgefühl geben konnte.“
Weltsch konnte 1938 nach Palästina auswandern, wo er weiterhin
journalistisch arbeitete. Mit der Schließung der DP-Camps zum Ende der
1940er Jahre und der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 war auch das
Ende der jiddischen Presse in Deutschland besiegelt. Die letzte Nummer des
Zentralorgans Undzer Weg erschien am 28. Dezember 1950, nach insgesamt 290
Ausgaben.
[3][Arno Lustiger] verfasste später zahlreiche Artikel und Bücher über die
Shoa, den jüdischen Widerstand und den Neuanfang im Land der Täter. Mit
einem Schmunzeln erinnerte er sich an seine Arbeit für Unterwegs: „Dort
habe ich viel gelernt. Ich war der Jüngste in der Redaktion und hatte
keinerlei Ahnung vom Journalismus, vom Schreiben.“
20 Jul 2025
## LINKS
[1] /Buch-ueber-deutsch-israelische-Beziehung/!5998021
[2] /Zeitschrift-ueber-Graeuel-der-Nazis/!5761590
[3] /Arno-Lustiger-gestorben/!5093721
## AUTOREN
Jim Tobias
## TAGS
wochentaz
Presse
Nachkriegszeit
Judentum
zionismus
Judenverfolgung
Displaced Persons
Identität
GNS
Shoa
Charlotte Knobloch
Judentum
## ARTIKEL ZUM THEMA
Anita Lasker-Wallfisch feiert Geburtstag: „Du wirst gerettet werden“
Anita Lasker-Wallfisch, Cellistin und Überlebende des Mädchenorchesters von
Auschwitz, feiert ihren 100. Geburtstag in London.
Ehrung von Charlotte Knobloch: „Unsere jüdische Bavaria“
Ein Festakt anlässlich eines Doppeljubiläums: 80 Jahre Israelitische
Kultusgemeinde München und 40 Jahre Präsidentschaft von Charlotte Knobloch.
70 Jahre Leo Baeck Institut: Wenn Historiker selbst Geschichte werden
Vor 70 Jahren gründeten Holocaustüberlebende das Leo Baeck Institut zur
Erforschung des deutsch-jüdischen Lebens. Es ist eine Schatzkammer des
Wissens.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.