Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Boykotte gegen Israel: Gut gemeint, aber falsch
> Künstler:innen rufen weltweit zu Kulturboykotten gegen Israel auf.
> Damit schaden sie demokratischen Bewegungen eher, als sie zu
> unterstützen.
Bild: Protest in Madrid gegen das Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza
In den vergangenen Monaten hat der [1][Aufruf zum kulturellen Boykott
Israels] eine beispiellose Dynamik entwickelt – und markiert damit ein
neues Kapitel im anhaltenden Streit um die israelische Politik. Was einst
als vereinzeltes Rufen begann, ist zu einer weltweiten Bewegung geworden:
Tausende Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und Kulturschaffende verweigern
die Zusammenarbeit mit israelischen Institutionen, die sie als
mitverantwortlich für die militärischen Aktionen im Gazastreifen
betrachten.
Der Boykott betrifft Literatur, Theater, Wissenschaft, Kunst und
beeinflusst weltweit Veranstaltungen und Kooperationen. Prominente Absagen
und studentische Proteste haben kulturelle Räume in politische
Schlachtfelder verwandelt – Ausdruck eines umfassenderen Versuchs, Israel
kulturell zu isolieren und so politischen Druck aufzubauen.
Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Bewegung im bislang größten
literarischen Boykott der Geschichte: Über 7.000 Schriftstellerinnen,
Herausgeberinnen, Verlegerinnen und Künstlerinnen – darunter [2][Sally
Rooney], [3][Arundhati Roy], [4][Jhumpa Lahiri] und [5][Annie Ernaux] –
kündigten an, alle Verbindungen zu israelischen Kulturinstitutionen zu
kappen, die sie als mitschuldig an staatlicher Gewalt ansehen.
Der Protest reicht von Einzelinitiativen wie Caryl Churchills Rückzug von
einer Londoner Theaterproduktion über studentische Kampagnen, die
Universitäten auf fünf Kontinenten zum Abbruch akademischer Kooperationen
bewegen wollen, bis hin zu einem wachsenden Künstlerinnen-Boykott des
Sónar-Festivals in Barcelona.
So sehr diese Aktionen auch von echter Sorge um palästinensisches Leben und
Menschenrechte motiviert sind, [6][laufen sie Gefahr, eine komplexe
Realität auf vereinfachende Parolen zu reduzieren und damit ihre eigenen
Ziele zu untergraben.] Der Kulturboykott stärkt illiberale,
ultranationalistische Kräfte innerhalb Israels und schwächt gleichzeitig
liberale Stimmen, die für Koexistenz und ein Ende des Krieges eintreten. So
schadet der Boykott letztlich gerade jener palästinensischen Sache, die er
zu fördern vorgibt.
Der Krieg im Gazastreifen ist eine humanitäre Katastrophe – ein Ausdruck
nicht nur des moralischen und strategischen Scheiterns der derzeitigen
israelischen Regierung, sondern auch der tiefen gesellschaftlichen
Spaltung. Jenseits der militärischen Auseinandersetzung offenbart sich ein
innerer Kampf um den Charakter des jüdischen Staates – ein Wertekonflikt,
der eine unterschwellige, unbewaffnete Form des Bürgerkriegs befeuert.
Im Kern stehen sich zwei Visionen Israels gegenüber: eine liberale,
säkulare Demokratie auf Basis bürgerlicher Rechte und eine
ethnisch-religiöse Identität, getragen von messianischem Nationalismus. Auf
der einen Seite steht die Zivilgesellschaft, entsetzt über das Ausmaß der
Zerstörung, einen sofortigen Waffenstillstand und die sichere Rückkehr von
55 israelischen Geiseln fordernd. Auf der anderen Seite steht eine
populistische, korruptionsbelastete Regierung, die ihre Macht durch Angst,
Ressentiment und religiösen Fanatismus sichert – auch gegen den Willen
eines Großteils der Bevölkerung.
## Israelis wollen ein Ende des Krieges
Umfragen zeigen, dass fast zwei Drittel der Israelis ein Ende des Krieges
und ein umfassendes Geiselabkommen befürworten. Doch Premierminister
Benjamin Netanjahu hält den Konflikt aus persönlichem Machtkalkül am Leben,
so will er seine Regierung so lange wie möglich erhalten und dadurch
strafrechtliche Prozesse verzögern. Damit untergräbt er nicht nur Israels
demokratische Institutionen, sondern verschärft die sozialen Spannungen im
Inneren.
Der politische Kampf um ein Kriegsende ist somit Teil eines umfassenderen
Ringens um Israels Demokratie. Dieses innere Ringen – mit all seinen
komplexen und widersprüchlichen Dynamiken – zu verstehen, ist entscheidend
für westliche Liberale, die sich für das Ende der Gewalt und eine
gerechtere Zukunft beider Völker einsetzen wollen. Ohne dieses Verständnis
riskieren Boykottaktionen, genau die Kräfte zu stärken, die dem Frieden im
Weg stehen.
Wie in vielen westlichen Demokratien steht auch in Israel die
Zivilgesellschaft unter Druck. Statt globale Solidarität zu fördern,
begünstigt der Boykott jene Kräfte, die Israels westliche Bindungen kappen
wollen – Gruppen, die Universalismus und Menschenrechte ablehnen. Er spielt
jenen in die Hände, die westliche Kultur als dekadent verteufeln und
Israels Isolation als strategisches Ziel betrachten.
Kulturschaffende sollten daher nicht die wenigen liberalen Stimmen in
Israel boykottieren, sondern sie aktiv unterstützen – denn nur sie sind
durch den Boykott tatsächlich bedroht. Es sind israelische Autorinnen,
Filmemacherinnen, Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen, die seit
Jahrzehnten für Frieden, Gewaltlosigkeit und Menschenrechte eintreten – oft
gegen die eigene Regierung. Ihre Isolation bedeutet das Verstummen der
letzten friedenspolitischen Stimmen des Landes.
Kulturelle Boykotte haben selten autoritäre Regime gestürzt – sie haben
aber oft jene isoliert, die im Inneren am ehesten Veränderung bewirken
konnten. Kultur ist der Raum, in dem Differenz, Kritik und Visionen
überleben. Boykott ist kein Widerstand – sondern ein Rückzug, der die
Hoffnung auf Verständigung gefährdet. Nicht die Verweigerung, sondern die
Aufrechterhaltung des Dialogs schafft die Voraussetzung für gegenseitige
Anerkennung und Respekt.
Was Israelis und Palästinenserinnen heute brauchen, ist differenzierte,
prinzipientreue und mutige westliche Unterstützung. Ihr Kampf ist Ausdruck
einer globalen Krise: Die liberale Demokratie ist weltweit unter Beschuss.
Ohne echte, internationale Solidarität der Freiheitsbefürworter droht ihr
Scheitern. Es braucht ein neues Engagement – und das jenseits von
Vereinfachung, jenseits von Polarisierung. Wenn Intellektuelle und
Künstlerinnen diese Verantwortung nicht tragen können – wie sollen wir das
dann von der Politik erwarten?
1 Jul 2025
## LINKS
[1] /Ravers-fuer-Palestine-gegen-Boiler-Room/!6079714
[2] /Nahostkonflikt-in-der-Literatur/!6042717
[3] /Schriftstellerin-in-Indien/!6014455
[4] /Ein-Ausweg-aus-dem-Sprachschicksal/!5492808/
[5] /Literaturnobelpreistraegerin-Annie-Ernaux/!5882552
[6] /Etgar-Keret-ueber-Boykotte-und-Literatur/!6046827
## AUTOREN
Amit Varshizky
## TAGS
Künstler
Boykott
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Zivilgesellschaft
Benjamin Netanjahu
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Nahost-Debatten
Punk
Friedensforschung
DJ
## ARTIKEL ZUM THEMA
Café in Gaza-Stadt: „Überall um mich herum lagen Leichen“
Ein israelischer Luftangriff trifft das Al-Baqa-Café in Gaza-Stadt. Viele
Zivilist:innen sterben, darunter Journalist:innen und
Künstler:innen.
Verhältnis der Deutschen zu Israel: Streit bei „Zeit“ über Löschung der …
Autor Maxim Biller hat in der „Zeit“ eine scharfe Kolumne über das
Verhältnis der Deutschen zu Israel veröffentlicht. Die „Zeit“ löschte den
Text. Wie kam es dazu?
Die israelische Band Holocausts: Für immer Punk
Die israelische Punkband Holocausts polarisiert. Ihr Frontmann Roy Elani
stößt immer wieder auf Wut und Missverständnisse – auch in Deutschland.
Friedensforscher Sa'ed Atshan: „Wir könnten viel kreativer über Konfliktlö…
Sa’ed Atshan ist queer, Quäker, Palästinenser. Im Interview spricht der
Friedens- und Konfliktforscher über Gaza, linke Homophobie und Pazifismus.
Ravers für Palestine gegen Boiler Room: Boykott der Boykotteure
Die britische DJ-Plattform Boiler Room ruft selbst zu Israel-Boykotten auf.
Nun wird sie von antiisraelischen Aktivisten ihrerseits boykottiert.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.