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# taz.de -- Nature Writing Festival in Hamburg: Fluchtpunkt ist immer die Wildn…
> Beweist der Mensch durch Beschreibung Macht über die Natur? In Hamburg
> trafen sich Autoren und Autorinnen zu einem großen Nature Writing
> Festival.
Bild: Auf dem Festival wurde auch nach antinationalistischer Heimatliebe gefrag…
Der Platz vor der Hamburger Zentralbibliothek ist weit und aus grauem
Beton. An seinem Rand, Richtung Altmannbrücke, bilden riesige quaderförmige
Sitzgelegenheiten Rampen, auf denen man sich gedanklich über die Gleise zum
Hauptbahnhof schießen kann. Zum Haupteingang der Bibliothek führt eine
kleine Brücke, die senkrechten Streben ihres verzinkten Geländers schneiden
die Stufen der benachbarten Treppe in Würfel.
Der ganze Platz ist eine pure Geometrie aus Stein und Metall. Das würde
einem vielleicht gar nicht auffallen – schließlich liegt der rote
Klinkerbau ja mitten in Hamburg –, wenn man hier nicht das Nature Writing
Festival suchen würde. Ein Festival übers Schreiben über Natur, hier?
Gerade hier, oder zumindest auch hier, sagt Jan Röhnert, Essayist und
Professor für Neuere Deutsche Literatur. Denn der Fluchtpunkt des Nature
Writing, des Beobachtens, Erfassens, Denkens und Schreibens über Natur, sei
immer die Wildnis. Und dieser Fluchtpunkt sei angesichts eines Sperlings in
der Stadt am wohl besten zu erspüren.
## Kunststoffpflanzen: kein Witz
Zusammen mit dem Essayisten und Landschaftspfleger Bernd Marcel Gonner lud
Röhnert am Freitagmorgen zu Lesung und Gespräch über „Wildnis und
Kultivierung“, Nature Writing im Essay, und damit zu einer von über 40
Lesungen, Vorträgen, Gesprächen,
Workshops, Ausstellungen des Festivals, das sich in der vergangenen Woche
einmal quer durch die Stadt gezogen hat, in Buchhandlungen, Cafés, Läden,
Passagen, sogar auf der Elbe. Und im „Hauptdeck“, dem lichtdurchfluteten
Veranstaltungssaal der Zentralbibliothek, helles Parkett, blaue Stühle und
Sessel und auf der Bühne, kein Witz, täuschend echte Kunststoffpflanzen.
Der Essay als offene Form, als Versuch, sei die eigentliche Heimstatt des
Nature Writings, sagt Röhnert, das die Lücke füllt zwischen dem Sachbuch
mit wissenschaftlichem Anspruch und literarischem Schreiben. Der Text
erhalte seine Form unterwegs, beim Wandern im Karstgebirge, durch
Trockenrasen, Wälder, entlang an Flüssen, am Meer, durch Dünen, Hügel,
Heide.
„Die erste Form der menschlichen Erschließung seines Lebensraums“, schreibt
Röhnert in seinem Essay „Wildnisarbeit. Schreiben, Tun und Nature Writing“,
„ist nicht dessen Veränderung und Umgestaltung im Sinne von agrarischer
Urbarmachung und Kultivierung, es ist die Benennung durch Sprache.“ Das
führte Gonner in seinem Essay „Manchmal scheint es Segel zu spannen“ vor,
in dem er die uralte Kulturlandschaft des Taubertals durchwandert und den
blühenden Reichtum des Trockenrasens aufzählt, dass einem ganz schwindlig
wird.
## Wörter als wilde Kreaturen
Da kam er angerollt, der „Themenball“, den der [1][Festivalorganisator und
-leiter,] der Verleger des KJM-Verlags Klaas Jarchow, sich durch die
Veranstaltungen bewegen sah. Denn über die „Benennung der Natur“ durch
Sprache hatten sich am Donnerstagnachmittag schon [2][Volha Hapeyeva] und
Andreas Unterweger Gedanken gemacht. Die in München lebende, weißrussische
Autorin Hapeyeva sieht den Benennungs- und Beschreibungsprozess als einen
„auch autoritären Vorgang, der sich nur schwer vermeiden lässt, aber immer
dazu führt, Kontrolle über das Objekt auszuüben“.
So gesehen stelle ein Wörterbuch eine Art Zoo dar, in dem „wilde
Kreaturen“, die Wörter nämlich, gehalten würden. Ihr Aufsatz „Was wir ni…
über Vögel wissen“ entstand als Teil des Wettbewerbs „Imagine Dignity. In
welcher Welt wollen wir 2040 leben?“ des österreichischen
Außenministeriums, in der österreichische Autoren mit Kolleg:innen im
Ausland korrespondieren.
Hapeyevas Partner dabei war der Grazer Autor Unterweger, den der Titel „Was
wir nicht über Vögel wissen“ sofort reizte: „Toll, das ist mein Thema“,
habe er gedacht, „weil, ich weiß nichts über Vögel“. Und so zählt auch …
wie Gonner in seinem Antwortessay auf, was er in der Landschaft sieht:
„Punkmeise … Rotseelchen … Flauschklops … Springinkel … Jedes Mal, we…
versuche, die Wintervögel an unserem Futterhäuschen zu benennen, muss ich
feststellen, dass mir zwar nicht die Wörter fehlen, aber doch die Namen.
Die richtigen jedenfalls, solche, die auch andere verstehen würden.“
Sein Lebensraum als Kind sei eben nicht die Natur gewesen, sondern „sein
Zimmer, die Schule, die Stadt“. In ein Bild einer heilen Natur hätte er als
Kind „sicher keinen Menschen gemalt“.
## Fremdsein in der Natur
Diese Erfahrung führt ihn zu einem Plädoyer für das Fremdsein in der Natur,
die vielleicht, am Ende, zu mehr Respekt ihr gegenüber führen könne.
Schließlich habe die größere Kenntnis und Nähe derjenigen, die Mitte des
20. Jahrhunderts und damit noch vor oder wenigstens an der Schwelle zum
fossilen Zeitalter geboren wurden, nicht verhindert, dass sie „für den
Zustand einer überhitzten und vermüllten Erde wesentlich Mitverantwortung“
trügen.
So unterschiedlich die Autoren auf das Beschreiben von Tieren, Pflanzen und
Landschaft schauen: Alle beschäftigt die Frage nach der Hierarchie von
schreibendem Menschen und beschriebener Natur, von Täter- und Opferschaft,
von der Macht des Menschen über die Natur – oder seinem Ausgeliefertsein
der Natur gegenüber. „Wir haben das Anthropozentrische des Schreibens über
Natur auf andere Füße gestellt, geprüft, mit welchen Wörtern und
Beschreibungen das gehen kann“, sagt Jarchow, der an diesem Thema ein
genuines Interesse hegt. Denn in der Reihe „European Essays on Nature and
Landscape“ seines Verlages geht es genau darum.
Auf dem Festival ging es noch weiter, etwa darum, ob die Natur eigene
Rechte hat, die sie vor Gerichten durchsetzen können müsste, oder ob
Industrie nur existenzbedrohend gedacht werden könne oder ob sie
transformierbar sei. Am Ende ziele, „was 'Nature Writer’ verfassen, auch
darauf, ein Tun – oder Lassen – auch außerhalb des Textes in der ‚ersten…
Natur anzustoßen“, schreibt Gönner.
Somit ist Schreiben über Natur immer auch eine Form von Aktivismus und
politisch sowieso. Denn wie Menschen Natur beschreiben – oder was sie
überhaupt erst für Natur, für wild, wertvoll, schützens- und
wahrnehmungswert halten –, sagt mehr über sie und ihren Standpunkt aus als
über die Tiere, Pflanzen und Landschaften, die sie ins Visier nehmen.
## Orte der Sehnsucht
Das zeigt sich besonders deutlich in den (touristischen) Sehnsuchtsorten,
anhand derer Markus Thielemann und Anna-Katharina Wöbse in
„Heimat/Antiheimat“ das Gespräch darüber suchten, „wo wir leben“. Wä…
Thielemann in seinem Roman [3][„Von Norden rollt ein Donner“] nicht nur den
Wolf durch eine Lüneburger Heide spuken lässt, die von Rüstungsindustrie
und Militär mindestens so sehr geprägt ist wie von Heidschnucken und lila
Erika, ständig knallt und donnert es auf den Truppenübungsplätzen; gerade
deswegen ist die Heide nicht nur Urlaubsort für Wandertouristen, sondern
auch ein Schwerpunkt der neurechten Siedlungsbewegung.
Schreiben und Nachdenken über Natur geht nämlich auch von Rechts, darauf
weist die Historikerin Wöbse hin und setzt dagegen die „linke,
antinationalistische und antimilitaristische Heimatliebe“, in der Tradition
des begeisterten Wanderers Kurt Tucholskys, die „ja zur Landschaft“ sagt.
Was zu der Frage führt: Bücher über Natur, Wildnis, Landschaft, Heimat –
brauchen die ein Label? „Ich würde mich da eigentlich nicht einordnen“,
sagte die Hamburger Bestsellerautorin Katharina Hagena auf ihrer Lesung am
Donnerstag Abend in der Buchhandlung Cohen+dobernigg im Schanzenviertel. Es
ist ausverkauft, in den Reihen sitzen Junge und Alte, viele Frauen.
Auch wenn sie sich nicht als Autorin des Genres sehe, lese sie ihr neues
Buch „Flusslinien“ gerne auf dem Festival, sagt Hagena, „denn ich kann mir
gar nicht vorstellen, meine Bildersprache nicht auf Natur zu beziehen“. In
ihren Romanen geht sie immer von Orten aus, die sie gut kennt, „Personen,
Handlungen erfinde ich, die Orte nie, ich muss wissen, wie es da riecht,
was da wächst“.
## Das Festival als Kaleidoskop
Einen genuin politischen, gar pädagogischen Anspruch habe sie nicht, aber
genau hinsehen, das will sie schon. Damit fing sie einen Ball auf, den ihr
der Essayist Gonner hätte zuwerfen können, denn auch er wurde eher in das
Genre einsortiert, als dass er sich selbst dort hingeschrieben hätte.
Er habe schon immer über Pflanzen geschrieben, über Insekten, über das, was
ihm in der Natur begegnet, habe Henry D. Thoreau gelesen, die Romantiker
und so weiter. „Auf einmal kamen die Kritiker und sagten, das ist Nature
Writing, was du machst und was du liest. Ich hatte noch nie etwas davon
gehört und dachte, okay, ich mache also Nature Writing.“ Inzwischen,
erzählt er, habe er seine Bücher im Regal umsortiert, „sie stehen jetzt
nicht mehr verstreut, sondern zusammen“.
Dass das sinnvoll ist, ließ sich auf dem Festival erleben. Es funktionierte
wie ein Kaleidoskop, in dem sich die großen Fragen unserer Zeit – wie wir
mit Land, seiner Geschichte, seinen Ressourcen, seinen Grenzen – umgehen,
immer neu schütteln und anordnen ließen. Es sei eine „beglückende Erfahrung
gewesen“, sagt Jarchow, wirkt auf die Frage, ob es das nun jährlich gebe in
Hamburg, aber ehrlich erschrocken. Das „Nature Writing Festival“ sei jetzt
in der Welt, jetzt möge es doch auf Reisen gehen.
22 Jun 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Heike Holdinghausen
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Porträt
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