| # taz.de -- Mental Load in Tunesien: Taekwondo bei 40 Grad im Schatten | |
| > Drei Monate dauern die tunesischen Sommerferien. Zwischen Bildungsmisere, | |
| > Wirtschaftskrise und Drittjob fragen sich die Eltern: Wohin mit den | |
| > Kindern? | |
| Bild: Wohin mit den Kindern? Einfach in die Wüste schicken oder lieber anstän… | |
| Am Montag kamen in Tunis viele Schüler mit strahlenden Gesichtern nach | |
| Hause. Die großen Ferien haben in diesem Jahr besonders früh begonnen. | |
| Jetzt ist schulfrei bis September. Für viele Eltern beginnt eine Zeit des | |
| Improvisierens zwischen mehreren Jobs, Wirtschaftskrise und Bildungsmisere. | |
| Auf dem Place de l’Afrique wird der Sommer durch lautes Vogelgezwitscher | |
| eingeläutet. Noch vergangene Woche übertönte das Geschrei spielender Kinder | |
| in Schuluniform die dort in den Palmen lebenden Schwalben und waren die | |
| umliegenden Straßen verstopft von den Autos der Eltern, die ihre Kinder | |
| direkt bis vor den Eingang des Bouebdelli-Gymnasiums brachten – bis dann um | |
| Punkt acht die tunesische Nationalhymne durchs Viertel Lafayette schallte, | |
| gesungen von Tausenden Kindern. | |
| Jetzt hört man nur noch die Vögel. Selbst der Stau hat sich auf die | |
| Stadtautobahn verlagert, denn am Freitag begann das Opferfest Eid al-Adha, | |
| das im Familienkreis begangen wird. | |
| ## Elternkrisensitzung beim Espresso | |
| Kerim Saadi und seine Frau Fatma nutzen die dreißig Minuten, bis sie ihre | |
| Kinder von einer Tante abholen müssen, zu einer Krisensitzung im Café | |
| Convivium. „Morgen bringen wir beide zu deinen Eltern“, sagt die 35-jährige | |
| Lehrerin und macht einen Haken in ihren Kalender. | |
| „Nach dem Eid-Wochenende müssen sie zwischen deiner und meiner Familie | |
| pendeln“, sagt Kerim. Eigentlich ist der selbstständige Übersetzer vom | |
| frühen Ferienbeginn schwer genervt. Gerade ist ein selten gewordener | |
| Auftrag einer ausländischen Filmproduktion reingekommen. Damit Elyas, 13 | |
| Jahre alt, und Sarah, 9, nicht die Tage vor ihren Handys verbringen, wird | |
| mit anderen Eltern, Großeltern und Nachhilfelehrern ein detaillierter Plan | |
| ausgearbeitet. | |
| An den Nachbartischen werden Informationen über Sommerkurse für die Kinder | |
| ausgetauscht. „Diese langen Ferien sind ein logistischer Albtraum“, sagt | |
| Fatma. „Aber [1][schon wegen des Klimawandels] müssen wir uns alle daran | |
| gewöhnen, dass der Sommer eine Art Ausnahmezustand wird.“ Auch am späten | |
| Nachmittag ist es in Tunis noch 35 Grad heiß. Die Kinder am Nebentisch | |
| werden umgesetzt, sobald sie ein Sonnenstrahl trifft. | |
| „Am Wochenende werden es 40 Grad, im Juli wohl wieder 50“, sagt Kerim | |
| schulterzuckend. „Wir waren als Kinder früher einfach mit den Großeltern am | |
| Strand oder auf dem Land. Aber wegen der Hitze und dem schlechten | |
| Unterricht müssen wir jetzt quasi ein privates Schul- und Freizeitprogramm | |
| organisieren.“ | |
| ## Wirtschaftskrise, Putsch und schlechte Schulen | |
| Die Saadis sind wie viele tunesische Familien daran gewöhnt, aus der Not | |
| eine Tugend zu machen. Fatma lacht, als sie die Herausforderungen der | |
| letzten Jahre aufzählt: „Erst die Lockdowns, dann die Wirtschaftskrise. | |
| Kerim hatte keine Aufträge, von meinen 300 Euro Gehalt konnten wir gerade | |
| die Einkäufe bezahlen. Dann kamen die politische Krise und [2][der Putsch | |
| des Präsidenten]. Mit dem Ukrainekrieg explodierten die Lebensmittelpreise. | |
| Nur der Qualitätsstandard unserer Schulen sinkt zuverlässig weiter.“ Dann | |
| winkt sie ein Taxi herbei: Mit dem Nebenjob in einer Sprachschule bessert | |
| sie im Sommer ihr Gehalt auf. | |
| Kerim fährt derweil die Kinder zum Tanzkurs. „Im Juli lernen sie Taekwondo | |
| und Sprachen. Doch die Kosten in Höhe von jeweils 200 Euro können sich | |
| immer weniger Familien leisten, das ist der Mindestlohn in Tunesien“, sagt | |
| er. Die meisten Eltern suchen nach Zweit- oder Drittjobs. Die Enttäuschung | |
| ist wegen der ausgebliebenen Reformen in Wirtschaft und Bildung nach dem | |
| Arabischen Frühling groß. [3][70 Prozent der unter 30-Jährigen wollen im | |
| Ausland arbeiten]. | |
| Die Menschenrechtsaktivistin Rym Moussa, deren NGO kürzlich geschlossen | |
| wurde, organisiert im Sommer private Fortbildungstreffen mit Freundinnen. | |
| Doch heute geht sie mit ihrer 14-jährigen Tochter zum Englischkurs. | |
| „Zusammen eine Sprache zu lernen, ist sozusagen mein ganz persönlicher | |
| Arabischer Frühling“, lacht sie. | |
| 8 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mirco Keilberth | |
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