# taz.de -- „Union Busting“ im Sozialbereich: Sozial ohne Mitsprache | |
> Gekündigte Mitarbeiter, verhinderte Betriebsräte: Angesichts zunehmender | |
> Ökonomisierung behindern freie Träger gewerkschaftliche Arbeit. | |
Bild: Solidarität mit Sozialarbeiterin Inés Heider vorm Berliner Arbeitsgeric… | |
Berlin taz | Leonora Hartung sitzt in einem Imbiss und isst ein | |
Falafelsandwich, vor ihr liegt ein roter Schnellhefter. Sie blickt | |
nachdenklich nach draußen auf den Popcornstand mit ikonisch rot-weißem | |
Schirm, der neben einem Hochbeet mit tellergroßen Geranien steht. Sie habe | |
es am Anfang nicht glauben wollen, sagt sie. „So viel Widerstand auf den | |
Vorschlag, einen Betriebsrat zu gründen?“ Leonora Hartung ist | |
Sozialarbeiterin und heißt eigentlich anders. Doch was sie macht, verletzt | |
die festgefahrenen Hierarchien der hiesigen Arbeitswelt: Sie kritisiert die | |
Geschäftsführung. | |
Was für Deutsche allgemein gilt – bei 59 Prozent löst der Gedanke an den | |
Job mindestens einmal pro Woche starke Angstgefühle aus – trifft es auf | |
Leonora Hartung noch stärker zu? Sich gegen den Arbeitgeber zu stellen, | |
bedeutet in einem abhängigen Arbeitsverhältnis fast immer, die eigene | |
Existenz aufs Spiel zu setzen. Doch bei so viel Angst am Arbeitsplatz, ist | |
es da nicht gerade gut, über Veränderung zu sprechen? | |
Eine Veränderung wollten auch Leonora Hartung und ihre Kolleg:innen. Vor | |
allem wollten sie mehr Mitbestimmung. Aber, sagt sie: „Es war unmöglich, | |
einen Betriebsrat zu etablieren.“ | |
[1][Union Busting] – also die Behinderung von Gewerkschaftsarbeit und | |
Organisierung in Betriebsräten – ist illegal. Dennoch geht | |
Betriebsratsarbeit nicht selten mit Maßnahmen von Arbeitgebern wie | |
Abmahnungen, Kündigungen oder Einschüchterungen einher. Auch in der | |
Sozialarbeit kommt das immer wieder vor. Neu ist das nicht, in Zeiten des | |
zunehmenden neoliberalen Umbaus auch in der sozialen Arbeit stellt sich | |
jedoch die Frage: Hat Union Busting in dem Bereich zugenommen? | |
## Prekäre Branche | |
Wie viele andere Bereiche leidet die Soziale Arbeit unter Flexibilisierung | |
und prekären Arbeitsbedingungen. Zwar verdienen Sozialpädagog:innen | |
im Vergleich innerhalb des sozialen Sektors nicht schlecht – vor allem bei | |
Trägern mit Tarifbindung (TVöD). Doch im Schnitt liegt das Einkommen im | |
sozialen Bereich immer noch 17 Prozent unter dem anderer Branchen – der | |
sogenannte Care Pay Gap. Besonders freie Träger kämpfen mit unsicheren, | |
kurzfristigen Projektfinanzierungen – eine langfristige Perspektive fehlt. | |
[2][Zusätzlichen Druck erzeugen die Sparmaßnahmen des Berliner Senats]. | |
Diese Politik des Ressourcenentzugs erhöht den emotionalen Druck auf | |
Fachkräfte, die die Menschen, die sie betreuen, längst nicht mehr | |
angemessen begleiten können. | |
Leonora Hartung arbietet zu dieser Zeit für einen Träger, eine | |
gemeinnützige GmbH mit Sitz in Berlin. Er zahlt überdurchschnittlich gut. | |
Als sozialer Dienst ist er in der Wohnungslosen- und Eingliederungshilfe | |
tätig. Seit 2017 vermietet er Wohnungen an Menschen, die auf dem | |
entfesselten Berliner Immobilienmarkt selbst keine Möglichkeit haben, | |
Wohnraum anzumieten und zu halten. Mit seinem Housing-First-Ansatz, | |
wohnungslosen Menschen ohne Vorbedingungen eine Wohnung anzubieten, | |
verhandelt er sozialpolitisch notwendige Schritte für eine gerechtere | |
Verteilung von Wohnraum. | |
Auf seiner Website gibt sich der Träger „echt, innovativ, agil.“ Einer der | |
Geschäftsführer hat einen Master in Business Administration. Titel seiner | |
Abschlussarbeit: „Die Erhaltung des Humankapitals von älteren | |
Mitarbeitern.“ Auch in der Sozialen Arbeit zählt das Kapital: Für jede | |
Person, die in einer Wohnung untergebracht wird, bekommen Träger Geld. | |
Immer wieder werden die Mitarbeitenden angehalten, für eine 100-prozentige | |
Auslastung der Wohnungen zu sorgen. „Doch wenn alle Wohnungen ausgelastet | |
sind, kommen wir im Team mit angemessener Begleitung gar nicht hinterher. | |
Die Fluktuation ist zu hoch“, kritisiert Leonora Hartung. | |
## Kampf um Mitbestimmung | |
Nicht alle sind zufrieden mit dieser Unternehmenskultur. Wieso also nicht | |
einen Betriebsrat gründen, dachten sich einige Angestellte des Trägers. Als | |
die Pläne die Runde machten, meldete sich prompt die Geschäftsführung. | |
Mitbestimmung sei zwar gewollt, aber durch ein veraltetes Kontrollorgan wie | |
einen Betriebsrat? Die Geschäftsführung stellt ihre Alternative vor: den | |
„Common Purpose“. Doch dort war keine gewerkschaftliche Anbindung | |
vorgesehen, erzählt Hartung. Gerade das sei den Beschäftigten aber wichtig | |
gewesen. | |
Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) hat 2024 | |
herausgefunden, dass etwa jede fünfte Betriebsratsneugründung behindert | |
wird. Oft treten sie in inhabergeführten Unternehmen auf. In 62 Prozent der | |
Fälle wurden potenzielle Betriebsratskandidat:innen eingeschüchtert. In | |
58 Prozent versuchten Arbeitgeber, die Bestellung des Wahlvorstands zu | |
verhindern. In 45 Prozent unterstützten sie ihnen nahestehende | |
Kandidat:innen, und in 21 Prozent wurden Kandidat:innen gekündigt. | |
Union Busting wird dabei flankiert von einer gesellschaftlichen | |
Entwicklung, in Zuge derer öffentliche Mittel statt in soziale Sicherung | |
vermehrt in Unternehmenssubventionen fließen. Die Idee dahinter: gestärkte | |
Konkurrenzfähigkeit, Wachstum. Die Folge: Flächentarifverträge werden | |
abgeschafft, Unternehmenssteuern gesenkt, Sozialleistungen gekürzt. Nach | |
dem Prinzip „Workfare statt Welfare“ dominieren seit Jahren neoliberale | |
Aktivierungslogiken auch die Soziale Arbeit. Sozialleistungen werden | |
zunehmend an die Bedingung geknüpft, niedrig entlohnter Arbeit nachzugehen. | |
Das wirkt sich auf Mitarbeitende und Menschen, die von ihnen begleitet | |
werden, aus. | |
## Schwer nachweisbar | |
Ob im Zuge dieser Entwicklung auch Union Busting zugenommen hat, ist schwer | |
zu belegen. Denn erst, wenn der Geschäftsführung eine gezielte Verhinderung | |
von Wahlen oder mutwillige Kündigungen nachgewiesen werden können, spricht | |
man juristisch von Union Busting. Und das ist schwer nachweisbar. In Berlin | |
gibt es zwar eine spezialisierte Abteilung bei der Staatsanwaltschaft, die | |
sich um solche Fälle kümmern soll. Doch in den vergangenen acht Jahren | |
wurden alle eingegangenen Anzeigen eingestellt. | |
Arbeitsgericht in Mitte. Die Sonne scheint hell an diesem Morgen Anfang | |
Mai, das Foyer des Berliner Arbeitsgerichts ist voller Menschen. Ein | |
Polizist tritt auf eine kleine Menschenmenge zu und zeigt auf eine Person, | |
die eine Weste der Bildungsgewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) | |
trägt. „Ich habe die Anweisung bekommen, dass keine politischen Symbole | |
erlaubt sind“, sagt er. „Das ist eine Weste der Gewerkschaft. Die sind oft | |
bei solidarischen Prozessbegleitungen dabei“, erklärt der Anwalt der | |
Klägerin ruhig. Nach einem kurzen Telefonat bestätigt der Polizist, dass | |
die Weste okay ist. | |
Es ist der Gerichtstermin von Inès Heider, Sozialarbeiterin aus Neukölln. | |
Sie trägt Sportjacke und Jeans. Knapp zwei Jahre zuvor, im Sommer 2023 | |
hatte Heider in einer E-Mail über den internen Verteiler ihres Trägers auf | |
einen GEW-Streik hingewiesen. In der Mail zitiert sie Kolleg:innen, die die | |
Sparmaßnahmen als „menschenverachtend“ bezeichnen. Der Träger wirft ihr | |
vor, zu „wilden Streiks“ aufgerufen zu haben und kündigt ihr fristlos. | |
Dabei war Heider im Wahlvorstand des Betriebsrats und stand unter | |
Sonderkündigungsschutz. Obwohl in erster Instanz entschieden wurde, dass | |
die Kündigung rechtswidrig sei, ging der Träger in Berufung. | |
Im Gerichtssaal springen die Anwesenden reflexhaft auf, als die Richterin | |
in Alltagskleidung aus einem Hinterzimmer herauskommt. „Bitte setzen Sie | |
sich, ich muss nur kurz was holen“, sagt sie und marschiert flott aus dem | |
Raum. Als sie erneut erscheint, diesmal in Robe, stehen wieder alle. Nach | |
15 Minuten ist alles vorbei. Das Vorgehen des Trägers war rechtswidrig, | |
urteilt die Richterin. Weder der Inhalt ihrer E-Mail noch deren Versendung | |
rechtfertigten eine derart strenge Handhabung wie eine fristlose Kündigung. | |
Es war nicht vertraglich festgehalten, dass es Heider verboten ist, den | |
internen E-Mail-Verteiler des Trägers zu nutzen, und die Inhalte ihrer | |
Nachricht fielen unter das Recht auf freie Meinungsäußerung, heißt es. | |
## Radikale Betriebsratgründung | |
In dem Imbiss, in dem Leonora Hartung sitzt, ist mittlerweile ordentlich | |
was los. An allen Tischen sitzen Menschen, trinken Chai, essen Salat oder | |
Sandwiches. Auch bei ihrem Träger habe es Kündigungen gegeben, erzählt | |
Leonora Hartung. Der Träger dementiert das auf taz Anfrage. Nachdem die | |
Geschäftsführung ihre Konzepte vorgestellt hatte, setzt sie eine letzte | |
Informationsveranstaltung auf das Datum, an dem auch die Wahl zum | |
Wahlvorstand des Betriebsrats stattfinden soll. Danach soll abgestimmt | |
werden: Betriebsrat oder das Modell der Geschäftsführung, der „Common | |
Purpose“? | |
Am Ende entscheiden sich fast 80 Prozent der Mitarbeitenden für den | |
Betriebsrat. Um die Wahl zu organisieren, fordert der Wahlvorstand bei der | |
Geschäftsführung eine Mitarbeitenden-Liste ein. Fast zwei Monate vergehen. | |
Eine Liste wird nicht geschickt. Doch der Träger kündigt eine | |
Umstrukturierung an. Die sieben Standorte des Unternehmens werden in | |
eigenständige Betriebsstätten aufgeteilt. Anstatt eines Betriebsrats für | |
das gesamte Unternehmen müssten somit sieben gegründet werden. Die | |
Mitarbeitervertretung zu etablieren, sei so massiv erschwert, sagt Leonora | |
Hartung. Der Träger sagt auf taz-Anfrage, dass die Umstrukturierung in | |
keinem Zusammenhang mit der Gründung des Betriebsrates stünden. | |
Seit der Aufteilung fühlt sich Leonora Hartung jedoch isoliert. „Wir | |
arbeiten jetzt halt so vereinzelt vor uns hin“, sagt sie. Für sie ist klar: | |
Es ging darum, einen unabhängigen Betriebsrat zu vermeiden. „Ich habe das | |
Gefühl, es ist so normal, nicht mitzubestimmen, dass selbst das Einfordern | |
eines Betriebsrates schon wirkt, wie ein radikaler Akt.“ | |
18 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
Anna Kücking | |
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