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# taz.de -- Tod von Familienangehörigen: Sterben in Bürokratistan
> Auch nach dem Tod lauert die deutsche Bürokratiehölle, die kaum Zeit zum
> Trauern lässt. Warum das Thema endlich von links besetzt werden sollte.
Bild: Bevor ein Mensch beerdigt wird, schlägt die Bürokratie noch einmal zu
Stellen Sie sich vor, Ihr Vater ist gerade gestorben. In der Trauerphase,
während Sie sich schmerzhaften Aufgaben widmen – Verwandte und Freunde
anrufen, den Nachruf verfassen und verschicken und sein Hab und Gut
sortieren –, erhalten Sie eine Benachrichtigung vom Standesamt, es seien
einige fehlende Unterlagen nachzureichen, bevor die Sterbeurkunde
ausgestellt werden könne (ohne Sterbeurkunde kann der Mensch als
Rechtswesen nicht zu Grabe getragen werden): aktuelle internationale
Geburtsurkunde des Verstorbenen, aktuelle internationale Geburtsurkunde des
Ehegatten, aktuelle internationale Heiratsurkunde mit deutscher
Übersetzung, Erklärung über die Namensänderung bezüglich des Vatersnamens
sowie die Frage, wie er die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten habe samt
vorzulegendem Nachweis.
Stellen Sie sich vor, Ihr Vater wurde nicht in Berchtesgaden, [1][sondern
in Bulgarien geboren], nicht in den Alpen, sondern auf dem Balkan. Sie
müssten bei der dortigen Behörde anrufen, um zu erfahren, die aktuelle
(weniger als sechs Monate alte) Geburtsurkunde könne nur vom zuständigen
Amt in der Geburtsstadt ausgestellt werden, ausgehändigt entweder der
Person selbst oder einer von ihr bevollmächtigten Person.
Mein Vater hätte mir, kurz vor seinem Ableben, in weiser Voraussicht, dass
er seinen Tod mit einem Nachweis seiner Geburt zu bestätigen haben werde,
eine Vollmacht erteilen müssen. Doch selbst für die Lebenden ist der
Aufwand nicht unerheblich. Meine Mutter musste nach Sofia fliegen, um sich
besagte aktuelle internationale Heiratsurkunde ausstellen zu lassen.
Die Vorlage der Einbürgerungsurkunde ist ein weiteres bürokratisches
Rätsel, denn der Behörde liegt der Reisepass meines Vaters vor – ein nahezu
fälschungssicheres Dokument. Da der Einbürgerung ein [2][bürokratischer
Hindernislauf] sondergleichen voranging, bedeutet diese Aufforderung nichts
anderes als zwischenamtliche Paranoia oder Schikane gegenüber
Eingebürgerten. Auf meine telefonische Frage, wieso die ältere
Geburtsurkunde nicht ausreiche, erklärte mir der Beamte, er benötige eine
bestimmte Nummer. In Bürokratistan kann der Mensch nicht sterben, ohne ein
weiteres Mal mit einer Kennziffer belegt zu werden.
Während meiner Irrungen in diesem kafkaesken Labyrinth informierte mich das
fürsorgliche Bestattungsinstitut, dem Wunsch meines Vaters nach Kremierung
könne nur nach vorangegangener Obduktion entsprochen werden (obwohl die in
jeder Hinsicht vorbildliche Palliativabteilung des Krankenhauses die letzte
Phase seiner Krebserkrankung minutiös dokumentiert hatte).
## Ordnung muss sein – auch bei Urnen
Sein Wunsch, dass seine Asche in den Bergen seiner Herkunft verstreut
werde, scheiterte zunächst an dem in fast allen Bundesländern herrschenden
Friedhofszwang (ein preußisches Gesetz, das in der Nazizeit
verschlimmbessert wurde): Ordnung muss sein, auch bei Urnen. Welch ein
Graus, wenn hierzulande die aus Hollywood bekannte Manier, die Großmutter
auf dem Kaminsims aufzubewahren, Schule machte.
Als ich vor einem Jahrzehnt eine Schwäbin zu ehelichen begehrte, verlangte
das Standesamt – Sie ahnen es – meine aktuelle Geburtsurkunde sowie neben
den Scheidungspapieren meiner ersten Ehe auch die vorangegangene
Heiratsurkunde. Was mit großen Schwierigkeiten verbunden war, weil ich
unbedachter Weise in [3][Südafrika] geheiratet hatte. Auf meine Frage, die
Scheidungspapiere bewiesen doch, dass ich keine Bigamie begehen würde, denn
entweder sei ich nie verheiratet gewesen oder erwiesenermaßen geschieden,
erwiderte die Beamtin, der Gesetzgeber müsse jede Eventualität
berücksichtigen. Das ist ein grausamer Denkfehler.
Gesetze sollten den allgemeinen Fall, die üblichen Konstellationen, die
gängigen Konflikte regeln und nicht einen Wust an Verordnungen
hervorbringen, um jede auch nur denkbare Ausnahme und jeden nur
vorstellbaren Einzel- und Sonderfall zu reglementieren. Dieser Kontrollwahn
führt zu einer Erniedrigung des Menschen, einem aufgeblähten Staatsapparat
und einer hysterischen Klagewut, die in Deutschland die Gerichte
überlastet. Ein antiaufklärerisches Projekt, das von der Unmündigkeit der
Bürgerinnen ausgeht und diese perpetuiert. Ganz zu schweigen von der
unwürdigen Situation in intimen Stunden der Trauer als Bittsteller vor Amt
erscheinen zu müssen und unzählige Stunden Lebenszeit zu verschwenden.
Wie kann es sein, dass Bürokratieabbau überwiegend ein Programm der Rechten
geworden ist? Dass Präsidenten wie Javier Milei und Oligarchen wie Elon
Musk in theatralischer Pose die Kettensäge schwingen, mit katastrophalen
Folgen für die soziale Gerechtigkeit in ihren jeweiligen Ländern. Wie kann
es sein, dass vor allem Industrie- und Wirtschaftsverbände weniger
Bürokratie fordern, so als wäre dieses Problem staatlicher Übergriffigkeit
allein eine Frage ökonomischer Effizienz.
## Von Kleingeistern zu Boden gebracht
Wie kann es sein, dass wir vergessen haben, wie zentral die Idee der
Freiheit für alles Progressive war, darunter auch Freiheit von
administrativer Gängelung. Höchste Zeit, daran zu erinnern, dass staatliche
Apparate sich an ihren stets wachsenden Aufgaben mästen und von sich aus
nie eine Schlankheitskur in Angriff nehmen werden. Würde Google Maps neben
Karte und Satellitenaufnahme auch bürokratische Stricke abbilden, wir
würden erkennen, wie sehr wir als Individuen und Firmen gefesselt sind. So
wie Gulliver bei den Liliputanern – selbst ein Riese wird von unzähligen
Kleingeistern zu Boden gebracht.
Vor etwa hundertdreißig Jahren schrieb der bulgarische Dichter Stojan
Michailowski folgende Zeilen, die es auf den Punkt bringen: „Es heißt, die
Bürokratie sei ineffizient, doch ich widerspreche entschieden. Sie allein
ermöglicht den Stillstand. Es wird behauptet, sie sei entmenschlicht, doch
dem kann ich nicht zustimmen, denn sie schützt uns vor dem Eigensinn des
Menschen. Es wird geklagt, sie schränke die Freiheit ein – wie wahr, das
muss sie auch, denn die Freiheit würde sie überflüssig machen.“
4 Jun 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
Sterben
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Kolumne Die Wahrheit
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