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# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Polen: Eine Frage der Gerechtigkeit
> Bei der Wahl in Polen an diesem Sonntag geht es nicht nur um eine
> politische Richtungsentscheidung, sondern auch um die Zukunft für die EU.
Bild: Bei der Wahl am Sonntag in Polen geht es auch um die Zukunft der EU
Nehmen wir zum Beispiel meine Mutter. Sie ist Polin und schimpft gern, dass
sich Deutsche kaum für Osteuropa interessierten. Deutsche Medien
berichteten über Wahlen in Kanada, Australien, den USA. Aber wer Präsident
im Nachbarland wird, das scheint sie erstaunlich wenig zu interessieren.
Irgendwann während unseres Gesprächs muss sie dann aber doch zugeben, dass
sie gar nicht weiß, wer [1][am Sonntag bei der Präsidentschaftswahl in
Polen] antritt. Meine Mutter lebt seit über 50 Jahren in Deutschland. Man
könnte auch sagen: Sie ist perfekt integriert, denn eine gewisse
Ostignoranz gehört schlicht zum deutschen Pass.
Andererseits ist es wirklich kompliziert. Rafał Trzaskowski, Karol Nawrocki
und Sławomir Mentzen, diese drei haben die größten Chancen, das nächste
polnische Staatsoberhaupt zu werden. All die anderen Kandidatinnen und
Kandidaten, ganz egal ob sie liberal oder links oder was auch immer sind,
spielen keine große Rolle.
Versuchen Sie mal, mehrfach hintereinander Rafał Trzaskowski, Karol
Nawrocki, Sławomir Mentzen zu sagen. Und? Ich kann das nicht, dazu ist
mein Polnisch zu schlecht. Dafür schäme ich mich – ich bin ebenfalls
integriert. Sich schlecht zu fühlen wegen Polen, auch das ist deutsch. Das
hat selten mit mangelnden Sprachkenntnissen zu tun, sondern eher mit Krieg
und Gewalt: den beiden Weltkriegen und drei polnischen Teilungen. Deutsche
wissen zwar, dass sie nicht nett im Osten waren, aber selten, was genau
passiert ist. Trotzdem lieben sie es, über Osteuropa zu philosophieren.
Dabei ist es großartig, wenn die Menschen zwischen Rostock und München
wissen wollen, was in Polen, in der Ukraine, in Lettland los war und ist.
Aber ist es ehrliches Interesse, oder dient es lediglich dazu, die eigene
Haltung zur Aufrüstung von Bundeswehr und Nato kundzutun? Es ist nicht
unredlich zu behaupten, die Deutschen haben ihren Wissensdurst hinsichtlich
der Ukraine erst 2022 durch den russischen Angriffskrieg gegen das
Nachbarland entdeckt. Im Gegenteil, es ist luxuriös, sich erst mit
Osteuropa zu beschäftigen, wenn es weltpolitisch angesagt ist.
## Deutsch-polnisch-balitische Familie
Diesen „Luxus“ hatte ich nie. Ich wäre dem Thema oft gern ausgewichen, nur
konnte ich das kaum, familiär bedingt. Meine Mutter ist Polin, die Familie
meines Vaters kommt aus dem Baltikum und Russland. Ich habe nur den Luxus,
dass mein Name so klingt, als würde ich aus Brandenburg stammen. Aber ich
bin in Westdeutschland aufgewachsen, wo Polen oft als Putzfrauen und
Autodiebe galten. Dabei hatte ich durchaus die Wahl, es handzuhaben wie so
viele unsichtbare „Strebermigranten“ auch: die familiäre Herkunft einfach
nicht zu erwähnen, weil man sie ja nicht sieht und hört. Andererseits sind
die Reaktionen interessant: etwa als mich bei der Fußball-WM 2006 deutsche
Fußballfans anspuckten, weil ich in einem Polentrikot unterwegs war. Wie
rasch doch selbst verordnete deutsche Toleranz verrutscht.
Aber auch die Polen gehen nicht immer herzlich mit den Deutschen um, dort
ist Polemik gegen Deutsche so etwas wie Volkssport, 80 Jahre nach dem
Kriegsende kann man mit Deutschenhass bei Wahlen Stimmen fangen. Es ist
nicht verwunderlich, dass Ministerpräsident Donald Tusk nicht dabei war,
als Mitte April in Berlin in der Nähe des Bundestags ein 30 Tonnen schwerer
Findling aufgestellt wurde – als temporäres Denkmal für polnische NS-Opfer.
Tusk braucht im ohnehin schon heftigen Wahlkampf nicht auch noch
freundliche Bilder aus Deutschland.
Zwar teilt er einige politische Standpunkte mit dem neuen Bundeskanzler
Friedrich Merz, aber Tusk sitzen die polnischen rechtsextremen Parteien mit
ihren Ressentiments gegen Deutschland im Nacken. Mit guten diplomatischen
Beziehungen zum Nachbarland kann man bei der Wahl am Sonntag auf keinen
Fall punkten. Und so lauteten die Antworten während einer TV-Wahldebatte
auf die Frage, wohin sie als Erstes reisen würden, von allen Befragten in
etwa so: Überallhin, nur nicht nach Berlin.
Menschen wie meine Mutter drücken es so aus: „Tusk ist ohnehin als halber
Deutscher verschrien.“ Tusks Großeltern waren Kaschuben in Danzig, die
Sprache seiner Großmutter mütterlicherseits war Danziger Deutsch, Tusks
Großvater wurde aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Deutschen Volksliste in
die Wehrmacht einberufen.
Deutschenfeindlichkeit hin oder her, der nächste polnische Präsident sollte
– aus progressiver Sicht – ein Proeuropäer sein, einer aus Tusks
Bürgerplattform. Am besten also: Rafał Trzaskowski. Der Kandidat steht
unter anderem für Chancengleichheit, LGBTQ-Rechte, starke Beziehungen zur
Europäischen Nation und zu den Vereinten Nationen, Investitionen in Schulen
und Krankenhäuser sowie eine Umweltzone in der Warschauer Innenstadt.
Der bisherige Bürgermeister Warschaus führt in Umfragen vor Karol Nawrocki,
dem Kandidaten der oppositionellen PiS-Partei, der als Historiker und
einstiger Sportler im Wahlkampf schon mal gern Weltkriegsreparationen
fordert. Wie bitte? Weltkriegsreparationen – ein Wort, das Deutsche rasch
aufwachen lässt. Die Polen wollen Geld von uns? Jetzt hört doch mal auf!
Wir haben doch schon … also ungefähr … Was? Bislang noch gar nichts
gezahlt? Und was ist mit den Industrieanlagen, die nach Kriegsende in der
sowjetischen Besatzungszone, also in der DDR, demontiert wurden? Im
„Gegenwert“ für Millionen getötete Polen und für Milliardenschäden im L…
Aber nur bis 1953, dann drängte die Sowjetunion die polnische Regierung zum
Verzicht. Deutschland beruft sich aber bis heute darauf – und liefert damit
den Rechtspopulisten der PiS Munition für jede Wahl. Nun könnte man sagen:
Schwamm drüber, wir Deutsche haben uns doch entschuldigt! So kann man das
sehen. Aber dann muss man sich in Deutschland auch nicht über den Groll
vieler Polinnen und Polen wundern.
Und erst recht nicht, warum rechte Politiker so reüssieren. Oder um es mit
den Worten des Präsidentschaftskandidaten der rechtsextremen Konfederacja,
Sławomir Mentzen, zu sagen: „Wir wollen keine Juden, Homosexuellen,
Abtreibung, Steuern und EU.“ Laut Umfragen kann es Mentzen in die
Stichwahl schaffen und so Trzaskowski oder Nawrocki Stimmen rauben.
## Mitte-links oder wieder rechts
Das wäre fatal. Denn die aktuelle Bürgerkoalition braucht dringend einen
Präsidenten, der keine Reformen mehr blockiert. Es geht um viel: Vom
Wahlausgang hängt unter anderem ab, ob die proeuropäische
Mitte-links-Regierung von Donald Tusk die Blockade überwinden kann, die aus
dem Präsidentenpalast unter Andrzej Duda gesteuert wird und die Tusks
Arbeit seit seinem Amtsantritt vor anderthalb Jahren lähmt. So macht sich
seit Tusks Wahlsieg 2023 Ernüchterung breit, weil so wenige Vorhaben
umgesetzt sind.
Dass Polen in dieser Richtungswahl nicht erneut rechts abbiegt, ist wichtig
für die gesamte EU, die östlich der Oder nicht selten unbeliebt ist. Ein
vernünftig wirkender Pole sagte kürzlich mir gegenüber: „Die EU ist der
neue Versuch der Deutschen, hier einzumarschieren, diesmal über die
Wirtschaft.“ Da hat er nicht ganz unrecht, etwa 9.500 deutsche Firmen
produzieren in Polen, darunter Bosch, Mercedes, Zalando. Polen zahlte 2023
rund 5,7 Milliarden Euro an die EU und bekam gleichzeitig etwa 14,1
Milliarden aus dem EU-Haushalt ausgezahlt. Polen profitiert also von der
EU. Fährt man mit dem Auto durch Ostpolen, zeigt sich allerdings, dass das
Geld nicht überall ankommt. Es gibt sowohl ein Ost-West- als auch ein
Stadt-Land-Gefälle, nicht jeder in Polen hat seit 1989 vom Kapitalismus
profitiert. Meine Mutter sagt dazu: „Ostdeutschland hat sich eher an Polen
angenähert als an Westdeutschland.“
[2][Deutsche schämen sich zu Recht für 35 Jahre Kolonialherrschaft in
Afrika, Asien, Ozeanien,] aber nicht für die eintausendjährige
Ostkolonisation? Forscher sprechen lieber von Ostsiedlung. Was für ein
Euphemismus! Was der Deutsche Orden, eine christliche Ordensgemeinschaft in
der Nachfolge der Ritterorden aus der Zeit der Kreuzzüge, im Baltikum
veranstaltet hat, war überaus blutig. Mit seinen Eroberungszügen wollte der
Deutsche Orden „sein“ Territorium um Preußen und Livland noch vergrößern.
Doch tun Deutsche gern so, als seien die Nazis die Ersten und Einzigen mit
Ostgelüsten gewesen. Dabei sagte schon Preußenkönig Friedrich der Große
1779 über die erste Teilung Polens: „Wir werden diesen armen Irokesen
europäische Zivilisation bringen.“ Vor 250 Jahren teilten Russland, Preußen
und Österreich polnische Gebiete untereinander auf. Und Reichskanzler Otto
von Bismarck wollte die polnische Sprache gleich mal ganz verbieten. Polen
war lange Zeit ein Spielball von Großmächten.
## Die Nachbarn in der Heimat tuschelten
Aber das Verrückte ist: Die Polen mögen die Deutschen trotzdem. Der
deutsch-polnischen Versöhnung ist viel Gutes entsprungen: Kultur,
Wirtschaft, Tourismus – sowie ich und meine Geschwister. So kam mein Vater
zum Austausch nach Posen, dort leitete zufällig meine Mutter eine
Stadtführung. Ein paar heimliche Treffen und einen Abschiedsbrief an ihre
Eltern später brannte die junge Germanistikstudentin durch. Die beiden
heirateten in Dänemark, gingen nach Westdeutschland, wo der
Bundesnachrichtendienst eine Akte über sie anlegte. In der Heimat
tuschelten die Nachbarn, dass die Tochter ehemaliger Zwangsarbeiter den
Sohn eines Wehrmachtssoldaten geheiratet hatte.
Damit ist meine deutsch-polnisch-baltische Familiengeschichte aber noch
nicht auserzählt. Mein Großvater brachte es als Waisenkind in Lettland bis
zum Opernhornisten, heiratete eine Baltendeutsche, siedelte „heim ins
Reich“ und wurde 1944 eingezogen. In russischer Gefangenschaft fühlte er
sich als halber Russe, später auch in den USA, wohin er 1951 emigrierte.
Mein Vater wurde 1944 in Posen, Poznań, geboren und wuchs als Flüchtling
in Flensburg auf. Als sich meine Mutter und mein Vater 1972 bei der
Stadtführung kennenlernten, lautete eine der klassischen Touristenfragen
zu Posen: „Das war doch auch mal deutsch, oder?“ Woraufhin meine Mutter
stets lapidar antwortete: „Genau wie Paris.“
Es gibt viele [3][offene Wunden im deutsch-polnischen Verhältnis]. Nicht
erst durch die Präsidentschaftswahl ist Polen heute in Deutschland mehr im
Gespräch. Auch die Touristenzahlen steigen, [4][2023 waren rund fünf
Millionen Deutsche zu Besuch in Polen], damit liegt Deutschland klar an
der Spitze, deutlich vor der Ukraine, Großbritannien und Tschechien.
Vielleicht ist gerade jetzt die richtige Zeit, nach Polen zu reisen, trotz
Grenzkontrollen und latenter Bedrohung durch Putin. Es lohnt sich
jedenfalls, sich mit den Nachbarn zu beschäftigen.
Politisch ist die Wahl am Sonntag nicht nur für Polen entscheidend, sondern
auch für Deutschland. Wie heißen die drei wichtigsten Kandidaten noch mal?
17 May 2025
## LINKS
[1] /Polnische-Praesidentschaftswahl-/!6084756
[2] /Buch-zur-Globalgeschichte-Afrikas/!5944714
[3] /Deutsch-polnische-Grenze/!6083325
[4] https://de.statista.com/infografik/34460/anteil-von-touristen-aus-deutschla…
## AUTOREN
Dominik Bardow
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