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# taz.de -- Theologe über österlichen Judenhass: „Bachs Genie vergrößert …
> Die Karfreitagsrituale sind antijüdisch geprägt: Theologe Stephan Vasel
> über die Johannes-Passion und den Bedarf an einer heutigeren Oster-Musik.
Bild: „Die Juden“ waren's: Kölner Grablegungsgruppe markiert Nikodemus (l.…
taz: Herr Vasel, warum wollen Sie [1][Johann Sebastian Bach] canceln?
Stephan Vasel: Es geht gar nicht darum, Johann Sebastian Bach zu canceln.
taz: Ich frage das, weil ich mir vorstellen könnte, dass etwaige
Gegner:innen Ihr Anliegen in solcher Weise karikieren könnten: „Da will
einer unser Genie [2][ausradieren]!“ oder so etwas.
Vasel: Nein, darum geht es gar nicht. Johann Sebastian Bachs
Johannes-Passion ist 300 Jahre alt. Aus diesem Anlass wird sie gerade noch
viel mehr aufgeführt als zu anderen Anlässen schon. Das ist ein Kernbestand
[3][evangelischer Hochkultur]. Das Jubiläum bietet aber auch eine gute
Gelegenheit, da noch mal genauer drauf zu gucken. Wir haben in den
vergangenen Jahrzehnten sehr viel im christlich-jüdischen Gespräch gelernt.
taz: Das heißt?
Vasel: Wir haben eine völlig andere Beziehung zum Judentum. In der
Verfassung meiner, also der [4][hannoverschen Landeskirche] – vergleichbare
Texte gibt es aber auch bei allen anderen – stellt sich die Landeskirche
[5][gegen jede Form von Judenfeindlichkeit] und pflegt eine aktive
Beziehung zum [6][heute lebendigen Judentum]. Und vor diesem Hintergrund
stellt sich die Frage: Wie umgehen mit antijüdischen Traditionen, die wir
in verschiedener Form haben?
taz: Welches sind die Probleme an Bach und seiner Johannes-Passion?
Vasel: Erst mal das Johannes-Evangelium: Das ist einfach ein wesentlicher
Teil der Bibel, und wenn man es vergleicht mit den anderen Evangelien,
findet man ganz oft die Formulierung „die Juden“. Davon sind viele völlig
unproblematisch – aber etwa die Hälfte ist sehr problematisch. Denn man
gewinnt den Eindruck, dass „die Juden“ dieses ganze Evangelium hindurch
damit beschäftigt sind, dafür zu sorgen, dass [7][Jesus] hingerichtet wird,
dass er nicht freigelassen wird, dass ihm die Kreuzigung widerfährt. Dabei
gerät aus dem Blick, dass Jesus selbst ein Jude ist. Dass alle Jünger auch
Juden sind – und Judas erst recht. Und dass der Verfasser des
Johannes-Evangeliums selbst ein Jude war. Wir wissen ja nicht genau, warum
so ein Text vor fast 2.000 Jahren so geschrieben worden ist, wie er
geschrieben worden ist. Das kann man aber historisch einordnen.
taz: Dann kommt, deutlich später, Bach: Seine Johannes-Passion ist am
Karfreitag 1724 erstmals aufgeführt worden, eine zweite Fassung dann vor
300 Jahren.
Vasel: Johann Sebastian Bach vertont das Evangelium. Und Bach ist ein
absolutes Genie, der zu seiner Zeit nicht nur auf der Höhe der Zeit war,
sondern im Grunde genommen seiner Zeit musikalisch weit voraus. Emotional
verstärkt das, was er macht, die Gefühle, die im Evangelium angelegt sind.
taz: Und macht die Probleme, die der Text mitbringt, noch größer?
Vasel: Ja, das kann man so sagen. Er lässt die Gegner Jesu in einem noch
dunkleren Licht erscheinen. Schaut man sich sein Weihnachtsoratorium an, so
ist er ja auch in der Lage, die Weihnachtsbotschaft ganz anders zum
Leuchten bringen. Das heißt aber: Das Problem ist erst mal nicht Bach, oder
vielmehr, er ist es nur bei sehr detaillierter Betrachtung. Bach war kein
Antisemit. Wenn wir als Christen heute aber in einer anderen Beziehung zum
Judentum stehen und wissen, dass christlicher Antijudaismus eine Spur ist,
die zum Holocaust geführt hat – nicht die einzige, aber eben doch eine: Wie
machen wir das? Und die Antwort, die wir jetzt in Hameln gegeben haben und
die ich auch persönlich gegeben habe, ist, dass wir sagen: Die typische
evangelische Antwort auf problematische Bibeltexte ist [8][Auslegung]. Ich
selbst halte jetzt an Karfreitag einen Gottesdienst. Wir schmeißen nun
nicht das Johannes-Evangelium aus der Bibel raus, sondern wir legen es
heute anders aus als vor 500 Jahren.
taz: In gewisser Weise haben Sie das ja auch mit Bachs Stück getan: Sie
haben Anfang April eine sozusagen kritisch kommentierte Johannes-Passion
aufgeführt, mit „Zwischenrufen“ durch Sie.
Vasel: Bachs Johannes-Passion ist die Auslegung eines Bibeltextes, genauer
eine selbst klassisch gewordene Auslegung eines zentralen Bibeltextes. Wir
haben gesagt: Wir setzen auf Aufklärung. [9][Teil eins unserer
Beschäftigung] war, einfach noch mal das Johannes-Evangelium zu erklären:
Wie ist das genau mit dieser Formulierung „die Juden“? Wie mag es dazu
gekommen sein – und wie gehen wir heute damit um?
taz: Wie ging es weiter?
Vasel: Dann hatten wir als Zweites einen Diskurs in der Mitte: Das war
[10][eine wirklich weiterführende Diskussion]. Ulrike Offenberg, Rabbinerin
der [11][liberalen jüdischen Gemeinde in Hameln], war dabei, unser
Theaterdirektor Wolfgang Haendeler, [12][der Antisemitismusbeauftragte des
Landes Niedersachsen, Gerhard Wegner], und die Hildesheimer
Regionalbischöfin Adelheid Ruck-Schröder. Da ging es um die Frage: Wie geht
man mit [13][schwierigem Erbe] um? Und man stellt fest, da gibt es ungefähr
1.000 Möglichkeiten. Die Johannes-Passion nicht mehr aufzuführen, ist der
Weg, den wir nicht gewählt haben. Sondern ich habe dann aus dieser
evangelischen Haltung heraus, dass es eine doppelte Auslegung ist, gesagt:
Ich biete eine persönliche Auslegung an, das sind die drei Zwischenrufe
geworden. Und wenn jemand das anders sieht, dann kann er eine andere
Auslegung daneben stellen.
taz: Mir ist so ein Vorgehen sympathischer als das Streichen und Ersetzen.
Weil damit ja auch getilgt wird, was wir 300 Jahre lang so alles für
richtig gehalten haben.
Vasel: So können wir das Werk so aufführen, wie es vor 300 Jahren war und
gleichzeitig die Punkte, wo es einen heute schüttelt, durchbrechen und
sagen: Moment mal, da gibt es jetzt ein Statement von heutiger Zeit aus.
Also, wir sind da von Bach gar nicht so weit weg, würde ich sagen, indem
wir auch in einen Auslegungsvorgang kommen. Ich glaube, in Berlin gab es
mal eine Aufführung, da wurden „die Juden“ ersetzt durch die Formulierung
„die Gegner“. Wenn man das dann hört, kommt man in eine psycholinguistische
Betrachtung, das heißt, man wird eigentlich aus dem emotionalen Fluss des
Kunstwerkes herausgelöst. Und jedes Mal, wenn die Formulierung „die Gegner“
kommt, weiß man: Ah, da stand früher „die Juden“. Das funktioniert auch a…
Aufführung nicht.
taz: Gab es Menschen, die auch zu Ihnen gesagt haben: Diese Zwischenrufe,
dadurch ist etwas unterbrochen worden, das eigentlich nicht zu unterbrechen
sich gehört?
Vasel: Wir haben bewusst auf Diskurs gesetzt. Wir haben gesagt, wir wollen,
dass die Leute darüber diskutieren. Und wir haben auch ein breites Spektrum
an Meinungen dazu gekriegt, und die finde ich sehr wertvoll. Viele Leute
sagen: Mensch, mir war gar nicht klar, wo überhaupt das Problem ist, und
sie finden das hilfreich. Andere Leute haben gesagt: Es hätte auch
gereicht, die zwei Veranstaltungen vorher zu machen …
taz: … die „Aufklärung“ und den „Diskurs“ …
Vasel: … und die Anmerkungen ins Programmheft reinzuschreiben, das Werk
dann aber so aufzuführen, wie es ist. Und noch mal andere Leute haben mir
gesagt, dass diese Zwischenrufe für sie sehr stark waren.
taz: Herr Wegner, der Landes-Antisemitismusbeauftragte, hat sich, wenn ich
das recht verstehe, durchaus weiter aus dem Fenster gelehnt: Er hat im
Prinzip gesagt, Bach habe antisemitisch komponiert.
Vasel: Ich habe mich damit auch beschäftigt. Ich bin in der
Musikwissenschaft auf beide Thesen gestoßen und kann sie in der Tiefe nicht
abschließend beurteilen: Es gibt sowohl die Meinung, dass Bachs Mengenchöre
eine antisemitische Verstärkung sind und insofern auch die Klänge selbst
vergiftet. Es gibt aber auch die Position, die sagt: Er verstärkt einfach
die positiven und die negativen Elemente. Ich glaube, mit der Offenheit
müsste man jetzt mal leben, wenn man nicht eigens Musikwissenschaftler
wird. Wir wissen, dass in Bachs Bibliothek die antijüdischen Schriften von
Martin Luther gefunden worden sind – die aber leider sehr prägend waren
damals.
taz: Das im Rückblick nun ausmerzen zu wollen, sei’s bei Luther, sei’s
dieser selbst, oder halt Bach: Das käme mir nicht redlich vor.
Vasel: Die Frage ist tatsächlich nicht, ob Bach nun ein Antisemit war oder
nicht – ich glaube, er war eher keiner. Wichtiger finde ich, dass heute
keine antijüdischen Impulse von meiner Kirche ausgehen! Es hat ja wirklich
Karfreitagspogrome gegeben. Das heißt, Juden in Europa ist angst und bange
geworden, ob nach dem Karfreitagsgottesdienst Christen losziehen und ihnen
etwas antun. Im Bibeltext stirbt Jesus als Opfer von Gewalt und Willkür.
Wir verkehren den Sinn des Kreuzes ins Gegenteil, wenn wir es zu einem
Symbol der Täter machen, zu einem Symbol von Christen, die Juden verfolgen.
taz: Sie haben, was die Gegenwart und die Zukunft Ihrer Kirche angeht,
einen konkreten Vorschlag gemacht: eine Aufforderung, eine andere
Passionsmusik zu schreiben.
Vasel: Wir brauchen eine Passionsmusik, die deutlich macht, wie wir heute
den Tod Jesu deuten. Und da hat sich viel verändert. Und da hätte ich große
Lust, auch mit dranzubleiben.
taz: Ist da schon irgendwas in Sicht? Haben Sie die Hoffnung, dass das
passieren könnte?
Vasel: So schnell geht so etwas ja nicht. Aber ich glaube, dass da
tatsächlich etwas entstehen kann. Die [14][Hanns-Lilje-Stiftung] hat
signalisiert, dass sie so was finanziell unterstützen würde.
taz: Eine Stiftung mit der Aufgabe „in evangelischer Verantwortung den
beständigen Dialog von Kirche und Theologie mit Wissenschaft, Technik,
Wirtschaft, Kunst und Politik“ zu fördern.
Vasel: Bei der erwähnten Diskussion hat [15][Landeskirchenmusikdirektor
Benjamin Dippel] deutlich gemacht hat, dass man so etwas so komponieren
lassen muss, dass die Kantoreien es dann auch singen können. Also nicht so,
dass es ein Kunstprojekt ist, das dann nur zweimal aufgeführt wird und dann
in der Schublade verschwindet. Die Hamelner Rabbinerin hat aber auch noch
mal sehr deutlich gemacht, dass es auch weiterhin
[16][Begleitveranstaltungen] zu traditionellen Werken braucht: Wenn man
etwas Neues komponiert, ist der Bach ja nicht weg.
18 Apr 2025
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[10] https://www.kirche-hameln-pyrmont.de/Meldungen/aktuelles/2025/maerz-april/…
[11] http://www.jghreform.org/home-de.htm
[12] /das-portraet/!5958685
[13] /Judensau-Relief-in-Wittenberg/!5891390
[14] https://www.hanns-lilje-stiftung.de/
[15] https://www.landeskirche-hannovers.de/glaube/feiern/kirchenmusik
[16] https://www.sprengel-hildesheim-goettingen.de/aktuelles/nachrichten-2025/2…
## AUTOREN
Alexander Diehl
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