# taz.de -- Tagebuch aus Nowyi Rosdil: Endlich wieder Ukrainerin | |
> Unsere Autorin ist 33 Jahre alt, doch 27 Jahre lebte sie in Russland und | |
> in Georgien, mit russischem Pass. Sie kämpfte sich zurück in ihre Heimat. | |
Bild: Trauer in der Ukraine: Soldaten tragen den Sarg eines getöteten Soldaten… | |
Der Bus bringt mich heim. Er fährt durch die Hügel, die nur wenig | |
Frühlingsgrün zeigen. Ich sehe Störche, einige fliegen vorbei, andere | |
stehen in ihren großen Nestern und schauen umher, als wären sie die | |
Aufpasser hier. Bald werde ich in meiner Heimatstadt Nowyi Rosdil aus dem | |
Bus steigen. Ich werde zu Fuß durch die Straßen gehen, ein Haus betreten, | |
mit dem alten und mit Aufklebern übersäten Aufzug in den vierten Stock | |
fahren und meine Großmutter sehen. Zum ersten Mal seit dem Beginn der | |
[1][russischen Invasion in der Ukraine]. | |
Ich bin 33 Jahre alt, davon habe ich 27 Jahre lang in [2][Russland] gelebt. | |
Immer wieder war ich in die Ukraine gereist, und schon vor der Invasion | |
fasste ich den Entschluss, endlich zurückzukehren und meine ukrainische | |
Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen. | |
Aber ich hatte keine Zeit mehr: Russland hatte den Krieg begonnen, und kein | |
ukrainisches Konsulat war mehr bereit, seine Türen für mich zu öffnen. | |
[3][Drei Jahre lang habe ich Georgien, in Tbilisi, gelebt] und doch nie | |
aufgegeben. Noch nie in meinem Leben habe ich etwas so sehr gewollt – und | |
noch nie hatte ich es mit solcher Beharrlichkeit erreicht. | |
Und da stehe ich nun im Flur der alten Wohnung. Meine Großmutter schaut | |
mich an. Sie schweigt, als ob würde mir nicht glauben. Wie oft habe ich mir | |
diese Szene ausgemalt. Ich hatte gedacht, wir fielen uns um den Hals fallen | |
und brächen in Tränen aus. Doch nun stehe ich hier und kann ich mich nicht | |
bewegen. Meine Großmutter atmet schwer. Sie kann sich kaum auf den Beinen | |
halten, ihre Hände suchen einen Stuhl. Mühsam lässt sie sich sinken und | |
nimmt Platz. | |
## Natürlich kenne ich den toten Soldaten | |
Ich schaue mich um. Mein Blick wandert langsam von einem Gegenstand zum | |
anderen. Mir kommt alles unwirklich vor: Als ob ich nie weggegangen wäre, | |
als ob sich hier nichts verändert hätte. Von den Wänden blicken mich immer | |
noch dieselben Ikonen an, mit denselben schönen Gesichtern von früher. In | |
den Regalen stehen dieselben Bücher. Auf der Lehne des Sessels sind die | |
Spielsachen meiner Kinderheit drapiert, wie früher. Und das Kristallbesteck | |
auf der Anrichte wartet immer noch auf diesen einen ganz besonderen Tag, an | |
dem mit ihm endlich der Tisch gedeckt wird. | |
Ich wurde in der kleinen Stadt Nowyj Rosdil im Westen der Ukraine geboren. | |
Hier schien nie etwas zu passieren. Nowyi Rosdil ist weit weg von der | |
Front, der Krieg ist hier nur durch den Klang der Sirenen und durch die | |
Nachrichten im Fernsehen zu spüren. | |
Genau in dem Moment, als ich so dachte, ertönte plötzlich Musik von der | |
Straße. Dumpfe, schwere Klänge. Ein Trauermarsch. Ich öffnete das Fenster | |
und sah einen [4][Leichenzug]. Eine Militärkapelle führte den Zug an, | |
gefolgt von Priestern. Ein Leichenwagen mit einem Sarg bewegte sich langsam | |
hinter ihn. Bedeckt war er mit einer ukrainischen Flagge. | |
Als der Wagen vorbeifuhr, blieben die Menschen auf dem Markt stehen und | |
knieten nieder. Auf diese Weise verabschiedeten sie einen Soldaten, der uns | |
verteidigt hat, auf seiner letzten Reise nach Nowyi Rosdil. Meine | |
Großmutter sagt seinen Namen. Natürlich kenne ich ihn. In einer Stadt wie | |
dieser kennt jeder jeden. | |
Es ist dieser Moment, in dem der Krieg, der so weit weg und so abstrakt | |
war, plötzlich näher in Nowyi Rosdil ist als je zuvor. Es ist dieser | |
Moment, der uns zeigt, dass keine Stadt und keine Familie in der Ukraine | |
jemals wieder dieselbe sein wird. Wir zahlen einen zu hohen Preis für die | |
Freiheit, und doch wird es nie wieder so sein wie früher. | |
[5][Yulia Kalaban] ist Journalistin und lebt (wieder) in der Ukraine. Sie | |
war Teilnehmerin eines [6][Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung]. | |
Aus dem Russischen von [7][Tigran Petrosyan]. | |
Finanziert wird das Projekt von der [8][taz Panter Stiftung]. | |
18 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Yulia Kalaban | |
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