| # taz.de -- Tagebuch aus der Ukraine: Kurze Geschichte über eine Traktoristin … | |
| > Warum unsere Autorin in Odesa nicht mehr von Akkordeonklängen geweckt | |
| > wird. Und weshalb ihre Nachbarin nun für die Landwirtschaft ausgebildet | |
| > wird. | |
| Bild: Ein Traktor bringt auf einem Feld in Charkiw, Ukraine, Saatgut auf | |
| Seit einigen Jahren bin ich jeden Morgen durch den Klang eines Akkordeons | |
| aufgewacht. Die Musik ist aus dem Zimmer meiner Nachbarin gekommen, die ein | |
| Stockwerk höher wohnt. Die dünnen Wände des Wohnblocks vibrierten im Takt | |
| der Melodie. Es ist viel angenehmer, durch diese Klänge aufzuwachen als | |
| durch ein weiteres Granatfeuer oder durch Explosionen. | |
| Meine Nachbarin heißt Valentina und sie möchte [1][Odesa] nicht verlassen. | |
| Sie ist 65 Jahre alt, ihre Augen sind blau, und ihr Haar scheint sich zu | |
| weigern, grau zu werden. Hellgelb ist es, wie Stroh. | |
| Erst neulich habe ich bemerkt, dass ich den Klang des Akkordeons schon eine | |
| Weile nicht mehr gehört hatte. War etwas passiert? Ich habe mir Sorgen | |
| gemacht. Doch dann treffe ich Valentina eines Tages zufällig im Innenhof. | |
| Sie trägt grüne Handschuhe, ihr Kleidungsstil ist ungewöhnlich hell: ein | |
| beiger Mantel mit orangefarbenen Schmetterlingen und helle Schuhe. Dazu | |
| trägt Valentina einen großen Rucksack. Wir kommen ins Gespräch. | |
| Jeden Morgen geht sie zu einem Kurs, in dem sie das Fahren eines Traktors | |
| lernt. Bis vor fünf Jahren war Valentina noch Buchhalterin in einem großen | |
| Unternehmen, dann ging sie in Rente. Doch der Krieg hat viel verändert. Die | |
| meisten der [2][jungen Angestellten] ihrer Firma gingen an die Front. | |
| Einige starben, andere kämpfen noch. Aber die [3][Felder müssen beackert | |
| werden], der Weizen angebaut, die Ernte eingefahren. | |
| ## Was der Krieg noch so alles mit sich bringt | |
| Meine Nachbarin hat also in fortgeschrittenem Alter beschlossen, wieder zu | |
| arbeiten. Aber nicht als Buchhalterin, sondern als Traktorfahrerin, denn es | |
| gibt fast niemanden, der einen Traktor fahren kann. Für Menschen wie | |
| Valentina gibt es im Süden der Ukraine [4][spezielle Kurse für Frauen], in | |
| denen sie für schwere Berufe ausgebildet werden. Es gibt Ausbildungsgänge | |
| für internationale Busfahrerinnen, für das Bedienen von Lkws und | |
| landwirtschaftlicher Maschinen, geschult wird auch Sicherheitspersonal für | |
| große Einkaufszentren. Diese Kurse werden angeboten, weil es an Fachkräften | |
| im wehrfähigen Alter mangelt. Viele Rentner:innen in der Ukraine nehmen | |
| das Angebot an, wieder zu arbeiten und so neue Dinge zu lernen. | |
| Ich weiß, dass in den westeuropäischen Ländern eine Straßenbahn- oder | |
| Busfahrerin nichts ungewöhnliches ist. In unserem Land allerdings wurde | |
| dies lange Zeit als geschlechtsspezifisch unmöglich betrachtet. Doch jetzt | |
| ist die [5][Energie der Frauen] überall zu spüren. | |
| Früher bedeutete „Rentenalter“ bei uns, dass die Menschen nicht mehr | |
| gefragt waren. Man schickte sie nach Hause. Und wer sich gut fühlte, gesund | |
| war und bereit war, weiter zu arbeiten, dem war es fast unmöglich, einen | |
| Arbeitsplatz zu finden. | |
| Es fällt mir schwer vorzustellen, wie meine Nachbarin, die mich früher mit | |
| ihrem Akkordeonspiel erfreute, jetzt die Gangschaltung eines Traktors | |
| bedient und ein Feld durchpflügt. Ganz allgemein kann ich mir kaum | |
| vorstellen, dass Frauen wie sie nun Lkw-Fahrerinnen werden oder riesige | |
| Werkzeugmaschinen bedienen. Aber mir ist klar, dass dies unvermeidlich ist. | |
| Der Lebensstandard in der Ukraine hat sich durch den seit drei Jahren | |
| andauernden Krieg dramatisch verändert. Es gibt immer weniger Männer in der | |
| Produktion und der Landwirtschaft. Damit unterliegt alles einem Wandel: | |
| unsere Weltanschauung, unsere Werte, unsere Lebensprinzipien – und unsere | |
| Vorurteile. | |
| Ich habe Valentina gebeten, sie möge doch gelegentlich mit ihrem Akkordeon | |
| spielen. Sie hat es mir versprochen. Allerdings nur sonntags, denn das ist | |
| ihr einziger freier Tag. | |
| [6][Tatjana Milimko] ist Chefredakteurin des ukrainischen | |
| Onlinenachrichtenportals [7][USI.online]. | |
| Aus dem Russischen von [8][Tigran Petrosyan]. Finanziert wird das Projekt | |
| von der [9][taz Panter Stiftung]. | |
| 16 May 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Odessa/!t5009857 | |
| [2] /Frauen-in-der-ukrainischen-Armee/!6048600 | |
| [3] /Landwirtschaft-in-der-Ukraine/!5971751 | |
| [4] /Weibliche-Arbeitswelt-in-der-Ukraine/!6004503 | |
| [5] /Rentnerin-in-der-Ukraine/!6014908 | |
| [6] /Tatjana-Milimko/!a127521/ | |
| [7] https://usionline.com/ | |
| [8] /!a22524/ | |
| [9] /Panter-Stiftung/Spenden/!v=95da8ffb-144e-4a3b-9701-e9efc5512444/ | |
| ## AUTOREN | |
| Tatjana Milimko | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| taz Panter Stiftung | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Social-Auswahl | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Tagebuch aus der Ukraine: Bauen für eine bessere Zeit in besseren Häusern | |
| In Odessa entstehen viele Häuser. Teils, weil der Krieg viel Wohnraum | |
| zerstört hat. Teils aber auch, weil Bauen die Menschen wieder | |
| zusammenbringt. | |
| Tagebuch aus der Ukraine: Vorurteile, die auch der Krieg bestehen lässt | |
| Kateryna Mykhalko ist Managerin in der Rüstungsindustrie. An ihrer Arbeit | |
| gibt es keine Kritik. Aber sie ist 24 Jahre alt, und sie ist eine Frau. | |
| Tagebuch aus der Ukraine: Wenn Oma nicht mit Opa beigesetzt werden kann | |
| Viele Menschen haben Angst, in der Ferne begraben zu werden. Die Großmutter | |
| unseres Autors wurde auf einem anderen Friedhof als ihr Mann beerdigt. | |
| Belarussische Geflüchtete in Lettland: Was will der fremde Arzt von mir? | |
| Unsere Autorin stammt aus Belarus und lebt in Lettland. Angst hat sie, wenn | |
| sie sich in medizinische Behandlung begibt. Denn Verständnis ist selten. | |
| Tagebuch aus der Ukraine: Es ist Krieg, machen wir was draus | |
| Unter den russischen Bombardements leidet die Stadt Charkiw besonders. Doch | |
| gerade hier tobt wieder das pralle Leben. Aus Trotz und für die Freiheit. | |
| Tagebuch aus Aserbaidschan: Warum sie ihn zum Schweigen bringen | |
| Im Exil in Georgien hat unsere Autorin große Angst. Sie bangt um Tofig | |
| Yagublu, einen besonders mutigen Gegner des Regimes in Baku. | |
| +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: USA und Ukraine unterzeichnen Rohstoffabk… | |
| Washington und Kiew haben sich auf die Einrichtung eines Wiederaufbaufonds | |
| geeinigt. Im Gegenzug erhalten die USA Zugang zu Rohstoffen aus der | |
| Ukraine. | |
| Tagebuch aus Armenien: Wir wollen Arzach nicht vergessen | |
| Über 100 Jahre nach dem Genozid an den Armeniern geht die Unterdrückung | |
| weiter. Ein Festival im Berliner Gorki-Theater will die Kultur am Leben | |
| erhalten. | |
| Tagebuch aus Nowyi Rosdil: Endlich wieder Ukrainerin | |
| Unsere Autorin ist 33 Jahre alt, doch 27 Jahre lebte sie in Russland und in | |
| Georgien, mit russischem Pass. Sie kämpfte sich zurück in ihre Heimat. | |
| Tagebuch aus Lettland: Kein Heim in der neuen Heimat | |
| Unser Autor musste von Belarus nach Lettland fliehen. Ein neues Gesetz | |
| seines Gastgeberlandes erinnert ihn an seine alte Wohnung in Minsk. |