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# taz.de -- Der Hausbesuch: Das Haus auf dem Rücken
> Delal Atmaca wächst als Halbnomadin in den anatolischen Bergen auf – bis
> ihre Familie nach Deutschland zieht. Über die zwei Leben einer Frau.
Bild: Delal Atmaca (links) mit ihrer Mutter Besra in ihrer Wohnung in Berlin-Kr…
Zu wissen, dass ein Lebensweg immer auch anders sein könnte, macht Menschen
stark. So wie Delal Atmaca.
Draußen: Das fünfstöckige Gründerzeithaus mit grauer Fassade und roten
Fensterrahmen befindet sich in einer Seitenstraße in Berlin-Kreuzberg
zwischen Kottbusser Tor [1][und Görlitzer Park]. Um die Ecke gibt es eine
große Moschee, einen Bioladen, Cafés und Kneipen. Direkt gegenüber ist die
Grundschule, die Delal Atmaca und ihre Geschwister besucht haben. Zur
Mittagszeit spielen Kinder auf dem Hof, man hört sie toben und kreischen.
Drinnen: Die lichtdurchflutete Altbauwohnung hat hohe Decken. Eine Schale
Erdbeeren steht auf dem Esstisch neben einem Blutdruckmessgerät und
mehreren Blumensträußen. Die Mutter hatte Geburtstag. Es ist immer noch
dieselbe Wohnung, die die Familie bezog, als sie vor bald 50 Jahren aus der
Türkei hierher kam. An den Wänden hängen Fotos. Dafür, dass die Familie
bereits so lange hier wohnt, wirkt die Einrichtung minimalistisch. „Mutter
sagt, das Haus einer Frau muss auf ihren Rücken passen“, sagt Delal Atmaca.
Halbnomadisch: Bis sie zehn Jahre alt war, lebte Atmaca mit ihrer Mutter
Besra und ihren sechs Geschwistern halbnomadisch im Osten der Türkei. Den
Sommer verbrachte die Familie in den Bergen, zog mit Schafen und Ziegen
umher. Die Wintermonate über lebten sie im Tal. Wann genau Atmaca geboren
wurde, kann sie nicht sagen. „Auf dem Papier war es 1967.“ In ihrem Dorf
Mırseyid [2][in Ostanatolien zählen nicht Jahreszahlen], sondern
Jahreszeiten, „es war Herbst“. Ihre Eltern stammen aus demselben Dorf und
mussten, so war es bestimmt, heiraten. „Sie waren nie glücklich
miteinander.“ Ihrem Vater war das Dorf zu eng, er wollte raus in die Welt.
Ein „Freigeist“ sei er gewesen, sagt Delal Atmaca.
Deutschland: Zusammen mit seinem Zwillingsbruder geht Atmacas Vater als
Gastarbeiter nach Deutschland. Über München nach Berlin. Er arbeitet auf
dem Bau und schickt Geld in die Türkei, damit die Familie Lebensmittel und
Tiere kaufen kann. Alle zwei Jahre kommt er für drei Wochen zu Besuch. Ihre
Mutter Besra kümmert sich um Delal und ihre sechs Geschwister. Als Bäuerin
hütet sie eine Herde von 75 Tieren. „Manchmal nahm sie eine Tagesreise auf
sich, um in der nächstgelegenen Stadt Erzurum Lebensmittel zu tauschen.“
Sie sei eine „starke Frau“.
Aufbruch: Als der Vater 1976 in die Türkei zurückkehrt, zieht er mit der
Familie [3][nach Ankara]. Die Herde verkaufen sie. Er hält es in der Türkei
aber nicht aus. Nach nur fünfeinhalb Monaten geht er zurück nach
Deutschland, weil er sonst seinen Aufenthaltsstatus verloren hätte. Das
wollte er nicht. „Wir waren stinksauer“, sagt Atmaca. Zwei Jahre lebt sie
mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in Ankara, die Zeit sei „furchtbar“
gewesen. Da war die ständige Angst, als alevitische Kurden der
Zaza-Minderheit in der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft aufzufliegen.
„Ich ging einmal mit Fieber in die Schule, weil ich nicht wollte, dass
Mitschülerinnen zu uns nach Hause kommen und herausfinden, dass meine
Mutter kein Türkisch spricht“, sagt Delal Atmaca. Als der Vater ein Jahr
später zu Besuch kommt, stellt die Familie ihm ein Ultimatum: „Entweder du
bleibst, oder du nimmst uns mit.“
Enge: Im Februar 1978 zieht die Familie nach Berlin. Das paradiesische
Bild, das Delal Atmaca von Deutschland hatte, zerbricht. „Alles war grau
und matschig, es war einfach scheiße.“ Zu neunt wohnen sie in der
Zweizimmerwohnung in Kreuzberg. Nach dem Einzug lässt Besra die Wohnungstür
offen, damit die neuen Nachbarn [4][auf einen Çay vorbeikommen können].
Keiner kommt. „Nach einem halben Jahr schloss sie die Tür.“ Stattdessen
rufen die Nachbarn einmal die Woche wegen Lärmbelästigung die Polizei. „Es
war auch laut, wir waren eben sieben Kinder in einer Wohnung.“
Selbstständig: Als junge Frau sei die Mutter rebellisch gewesen, sei zu
Hause ausgezogen und baute für sich und ihre Kinder alleine eine kleine
Hütte. Dann der Umzug nach Deutschland – „auf einmal kommt sie hierher und
ist nicht mehr selbstständig“. Der Vater verdient auf dem Bau das Geld und
sie kümmert sich um die Kinder und den Haushalt. Die Mutter sagt etwas auf
Kurdisch, Delal Atmaca übersetzt. „Sie sagt, sie bereue, dass sie keiner
Erwerbsarbeit nachgegangen sei.“ Bis heute ist sie Analphabetin.
Behördengänge, Arztbesuche – bei all dem müssen die Kinder übersetzen.
Delal bringt ihr irgendwann bei, ihren Namen zu schreiben, „da war sie
stolz wie Bolle“.
Sehnsucht: Viele Jahre wünscht sich Delal Atmaca zurück an die Orte ihrer
Kindheit. „Ich war dort so frei.“ Im Haus sei man nur zum Schlafen gewesen.
„Wir sind die Berge heruntergerannt, haben Grünzeug gesammelt und im Winter
sind wir Schlitten gefahren.“ Atmaca hat ein Leuchten in den Augen, wenn
sie davon spricht. „Wir haben den Himmel bestaunt und wie viele Sterne da
sind – diese Unendlichkeit ist für mich das Sinnbild von Freiheit.“
Getrennt: In der Grundschule in Berlin kommt Delal Atmaca in die
„Vorbereitungsklasse für Hilfsarbeiterkinder“. Der Unterricht ist auf
Türkisch. Danach wird die ganze Klasse auf die Hauptschule gesteckt – auch
sie, trotz exzellenter Noten. Nach dem Schulabschluss will ihre Familie,
dass sie heiratet. „Aber das wollte ich nicht.“ Ihr Schulrektor erkennt ihr
Potenzial und schreibt eine Gymnasialempfehlung für sie. Auf der Oberschule
muss sie büffeln, um die Defizite aus der Zeit in den
„Vorbereitungsklassen“ aufzuholen. Und noch etwas ist anders: „Ab der
Oberschule war ich zum ersten Mal mit Deutschen in einer Klasse.“
Widerstand: In ihrer Familie hat Atmaca nicht die gleichen Rechte wie ihre
Brüder, und in der Schule wird sie von Lehrern rassistisch schikaniert.
Einmal wirft ein Mitschüler eine Milchpackung auf den Boden. „Ein Lehrer
kam zu mir und hat mich gezwungen, vor allen auf die Knie zu gehen und das
aufzuwischen. Da war diese ständige Ungerechtigkeit.“ Als sie 14 ist, wird
eine Freundin von deren Bruder ermordet – für Atmaca ein Schock und ein
weiterer früher Moment der Politisierung. Als Schülersprecherin setzt sie
sich deshalb für die Rechte von Mädchen ein, [5][später verteilt sie
Flugblätter für die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“].
Gerechtigkeit: Nach dem Abitur will Delal Atmaca für Gerechtigkeit kämpfen
und entscheidet sich für ein Jurastudium. „Ich wollte die
Menschenrechtsaktivistin überhaupt werden.“ Doch sie wird enttäuscht. In
einem Praktikum beim Gericht geht es ihr zu wenig um Menschenrechte und zu
viel um Nachbarschaftsstreitereien. Sie wechselt zum Fach
Kooperationsökonomik, geht ins hessische Marburg und beschäftigt sich mit
solidarischer Ökonomie jenseits von Konkurrenz und Planwirtschaft. An der
Universität erlebt sie Zusammenhalt und Gemeinschaft, auch der Studiengang
ist international. Später promoviert Delal Atmaca über handwerkliche
Genossenschaften aus DDR-Zeiten, die die Wende überlebt haben.
Zuhause: Seit zehn Jahren lebt Atmaca in Halle an der Saale, wo sie für
ihren damaligen Partner und einen Lehrauftrag an der Uni hinzog. Jede Woche
ist sie für ein paar Nächte in der Kreuzberger Wohnung, um ihre fast
90-jährige Mutter zu pflegen. Die lebt seit dem Tod ihres Mannes vor sechs
Jahren allein. „Niemand hätte gedacht, dass sie so lange in Deutschland
bleiben würde“, sagt Delal Atmaca. Für eine Rückkehr ins Dorf sei es jetzt
zu spät. Vor 13 Jahren besuchte Atmaca mit ihrer Tochter und ihrem
damaligen Ehemann ihr Heimatdorf. „Auf einmal war es mir dort viel zu eng.“
Ihr Zuhause sei Kreuzberg. „Wenn ich hierherkomme und ins Bett gehe,
schlafe ich sofort ein.“
Gemeinschaft: Eine Viertelstunde zu Fuß entfernt liegt die alevitische
Gemeinde Kreuzberg „Cemevi“. Atmaca bezeichnet sich als Atheistin, das
Alevitentum ist für sie „Naturreligion und Lebensphilosophie“. In der
Gemeinde genießt sie das Beisammensein, das ohne starre Regeln und Gebote
auskommt. Nach dem Tod ihres Vaters haben sie und ihre 16-jährige Tochter
dort rituell „Wasser über seinen Kopf gegossen“, um Abschied zu nehmen.
Unsicherheit: Für Delal Atmaca war der Kampf um Selbstbestimmung prägend –
doch in den vergangenen Jahren hat sie Übergriffe erlebt und fühlt sich
häufig nicht mehr sicher. „Die Stimmung hat sich gewandelt.“ Sie habe keine
Angst vor Deutschen, aber „vor Rassisten und Menschen, die in Schubladen
denken“. 2014 hat sie den Dachverband der Migrantinnenorganisationen
mitbegründet, „ohne den wir als Migrant*innen heute nicht da wären, wo
wir sind“. Sie ist die Geschäftsführerin. In einer Welt voller Widerstände
schöpft sie ihre Kraft aus Bewegung.
Utopien: Ihre Pläne für die kommenden Jahre sind politisch. Sie wünscht
sich eine emanzipatorische Akademie, in der über demokratische Werte und
eine feministische Gesellschaft nachgedacht wird.
30 Apr 2025
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## AUTOREN
Marietta Meier
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