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# taz.de -- Ausstellung über umstrittenen Neurologen: In den Hirnwindungen des…
> Was verbindet einen heute fast vergessenen Hamburger Arzt mit Lenins
> Leichnam? Dem spürt eine kleine, gelungene Ausstellung nach.
Bild: Der „Fall Lenin“: Max Nonnes Akte über seinen weltweit bekannten Pat…
Der Weg hinein geht vorbei an einer Sammlung von Büsten: Lenins
unterschiedlicher Größe und Material, augenzwinkernde Devotionalien. Dann
zwei Räume voll von Objekten, die aus unterschiedlichen Gründen in den Bann
ziehen: Akten aus der Psychiatrie, Filmaufnahmen halbnackter Männer, ein
Apparat, mit dem Stromstöße verabreicht wurden, ein Ölporträt des Arztes
Max Nonne und seine Büste – beides auf die Seite gekippt. In Vitrinen
originale Briefe, Telegramme, Briefmarken mit den Konterfeis von Lenin, Che
Guevara, Reinhard Heydrich, die Schreibmaschine der Bibliothek Warburg,
allerhand Andachts- und Kitschobjekte, ja, sogar Spielzeuge, die die
Lenin-Verehrung in Ost und West seit seinem Tod bezeugen.
In einem Interview von 2024 erklärte Wladimir Putin erneut seine
imperialistische Weltsicht, [1][dass der Begründer der Sowjetunion einst
die Selbstbestimmung der Ukraine akzeptiert habe] – was einer Demontage
Lenins gleichkommt, denn für Putin war das ein Fehler. Dieses Video bildet
den Endpunkt der Hamburger Ausstellung „Lenins Tod. Eine Sektion“.
Wie hängt das alles zusammen? Auf dem schwarzen Fußboden deuten dicke rote
Linien an, dass man sich in einer Montage bewegt. Ausgangspunkt für die
vielen Assoziationen ist eine stark verschmutzte, zerfledderte Akte. Darin
hatte Max Nonne, ein umstrittener Neurologe am Krankenhaus
Hamburg-Eppendorf, neben anderen Privatkonsultationen seinen „Fall Lenin“
dokumentiert. Heute kaum noch bekannt, war Nonne im ersten Drittel des 20.
Jahrhunderts eine Berühmtheit. Er hatte eine demütigende, schmerzvolle
Behandlungsmethode entwickelt, mit der traumatisierte Soldaten des Ersten
Weltkriegs mit Stromstößen kuriert werden sollten. Sie erwies sich als
nutzlos und wurde schon zu seinen Lebzeiten heftig kritisiert.
## Eine zwiespältige Persönlichkeit
Trotzdem wurde Nonne zusammen mit weiteren deutschen Ärzten im Jahr 1923 an
Lenins Moskauer Krankenbett gerufen – die Todesursache im Januar 1924 blieb
dann erst mal unklar. Offenbar hatte Nonne den „Fall Lenin“ nicht aufgrund
medizinischer Besonderheit dokumentiert, sondern weil der Patient Prestige
versprach. Die im Titel der Ausstellung benannte „Sektion“ ist eine
Anspielung auf die pathologische Leichenschau, meint aber vor allem den
Blick der Ausstellung selbst: auf einige kulturelle Verzweigungen nach
Lenins Tod.
Im ersten Raum wird Nonne mit seiner Karriere bis in die 1950er-Jahre
vorgestellt – und als zwiespältige Persönlichkeit: Einerseits war er
selbsterklärter Antisemit, der sich andererseits für entlassene jüdische
Kollegen einsetzte. Als Gutachter wiederum befürwortete er 1941 die Tötung
von geistig behinderten Kindern. Die erb- und rassenbiologischen
Auffassungen des Mediziners werden im zweiten Raum mit der
nationalsozialistischen Propaganda assoziativ verknüpft.
Die Lenin-Konsultation und dessen Tod bieten Anlass, den Begräbnis- und
Totenkult des Revolutionärs zu untersuchen. Ein wichtiges und Verbindung
schaffendes Objekt ist eine Briefmarke, die nachweislich erste Trauermarke
mit dem schwarz-weiß stilisierten Porträt Lenins. Das Artefakt geriet in
die Hände des berühmten [2][Hamburger Kunsthistorikers Aby Warburg]. Er
attestierte dem Mikrobild wahren Kunstwert! Für den Leiter des
Medizinhistorischen Museums, Philipp Osten, ist dieses populäre Objekt
Anlass, eine kurze Geschichte von Trauerbriefmarken zu entfalten.
## In Lenins Hirnwindungen
Der Lenin-Kult wiederum lenkt die rote Linie zum NS-Märtyrertod-Kult, der
ebenfalls in Briefmarken, aber auch in Postkarten, Denkmälern und Spielzeug
seinen Ausdruck fand. Auf Schritt und Tritt, von Vitrine zu Texttafel wird
man zu kulturgeschichtlichen Verknüpfungen angeregt, die aber den
medizinhistorischen Blick nicht verlieren.
Die Aussagekraft von Gehirnwindungen, die die Ausstellung zum Ende
thematisiert, führt in unsere Gegenwart. Heute noch wird in Bildern der
Computertomografie über die farbliche Kennzeichnung von angeblich guten,
kranken oder genialen Arealen zum Charakter eines Menschen spekuliert. Um
Lenins Gehirn zu untersuchen, wurde 1925 erneut ein deutscher Neurologe und
Psychiater nach Moskau beordert: Im Institut für Hirnforschung
mikroskopierte Oskar Voigt tausende von Hirnschnitten und kam zu dem
Ergebnis, dass Lenin aufgrund der ungewöhnlichen Anhäufung von
„Pyramidenzellen“ eine überdurchschnittliche Denkleistung gehabt haben
musste.
Die kleine, sehr sehenswerte Ausstellung wagt durch ihren montageartigen
Zugang viel, indem sie „Psychiatrie, Pathologie und Propaganda“ (so der
Untertitel) zusammenbringen will. Angesichts heutiger autokratischer
Entwicklungen, ideologischer Machtansprüche und Algorithmus-gesteuerter
Propagandaschlachten kann man hier einen Denkanstoß für eine ‚Sektion‘
gegenwärtiger Heldenproduktionen bekommen.
20 Jun 2025
## LINKS
[1] /Die-Rede-des-russischen-Praesidenten/!5837271
[2] /Besuch-im-Warburg-Haus/!5851465
## AUTOREN
Susanne Regener
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NS-Forschung
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