# taz.de -- Preis für Filmemacher Assaf Gruber: „Menschen im Prozess des ges… | |
> Assaf Grubers Filme handeln von Geschichte, Kommunismus und Zionismus. | |
> Ein Gespräch darüber, wie politische Konflikte in der Kunst wieder | |
> auftauchen. | |
Bild: Von den politischen Gefügen des Jahres 1968 gespalten: Edyta und Nadir i… | |
In den Kurzfilmen des Bildhauers und Filmemachers Assaf Gruber bieten | |
post-sowjetische, „östliche“ Gefilde in Łódź, Ost-Berlin, Dresden oder … | |
eine Bühne, auf der sich wiederum „westliche“ Paradigmen entfalten können… | |
persönliche, politische oder ästhetische. Seine oft dokumentarisch | |
wirkenden Arbeiten sind wie Konversationsstücke, in denen das, was wir | |
nicht sehen, ebenso präsent ist wie das, was offiziell gezeigt wird. | |
Grubers „Miraculous Accident“ wurde [1][auf der letzten Berlinale] als Film | |
uraufgeführt und als Videoinstallation beim [2][Steirischen Herbst 2024 in | |
Graz] ausgestellt. | |
Er erzählt die Liebesgeschichte zwischen Nadir, einem marokkanischen | |
Studenten an der Filmhochschule Łódź, und seiner jüdischen Schnitt-Dozentin | |
Edyta im Jahr 1968. Nadir gehört zu einer studentischen Delegation, die aus | |
Nordafrika zum Studium des kommunistischen Filmschaffens nach Polen kam. | |
Nach dem Sieg Israels über die vom Sowjetblock unterstützten arabischen | |
Nachbarstaaten im Sechstagekrieg 1967 lancierte das Regime in Polen eine | |
antijüdische Kampagne und denunzierte die polnischen Juden als „Fünfte | |
Kolonne“. Obwohl sie den Zionismus ablehnt, ist Edyta gezwungen, Polen zu | |
verlassen. 2024 kehrt Nadir nach Łódź zurück, nachdem er einen Brief | |
entdeckt hat, den Edyta ihm 1989 aus Haifa geschrieben hat. | |
taz: Herr Gruber, für „Miraculous Accident“ ließen Sie sich vom Leben des | |
marokkanischen Dichters und Filmemachers Abdelkader Lagtaâ anregen, der | |
darin auch den Nadir spielt. In die Handlung flechten Sie originale | |
Ausschnitte aus Studentenfilmen aus Łódź ein. | |
Einmal kommt die Frage auf, ob es sich dabei um Dokumentarfilme oder um | |
Fiktion handelt. Darauf antwortet Edyta: „Alles ist ein Dokumentarfilm“. | |
Wo, zwischen Dokumentarfilm und Fiktion, liegt denn Ihre Arbeit? | |
Assaf Gruber: Mehr zwischen Fabel, Spekulation und Geschichte – zwischen | |
dem, was hätte passieren können, und dem, was tatsächlich passiert ist. Oft | |
erscheint das, was nicht geschehen ist, plausibler als das, was tatsächlich | |
geschehen ist. An dieser Schwelle fühle ich mich als Künstler sehr | |
lebendig. Man könnte meinen, die verbotene Affäre zwischen Nadir und Edyta | |
habe wirklich stattgefunden, aber sie ist fiktiv. | |
In meinem anderen Film „The Right“ von 2015 schreibt eine Wachfrau der | |
Dresdener Gemäldegalerie, die den Caravaggisti-Saal beaufsichtigt, einen | |
Brief an den Direktor des Muzeum Sztuki in Łódź. Es ist die Zeit der | |
Pegida-Demonstrationen in Dresden. Als Kind wurde sie als „Volksdeutsche“ | |
aus Polen deportiert und kam nach Deutschland. | |
Sie ist begeistert von der Sammlung avantgardistischer Kunstwerke des | |
Museums in Łódź, vor allem von der besonders revolutionären a.r. group der | |
1930er. Die Kamera folgt ihr, während sie durch ihre Wohnung geht. | |
Avantgarde und Barock treffen sich bei der Protagonistin, die real zu sein | |
scheint, dabei ist sie erfunden. | |
taz: Edyta ist in „Miraculous Accident“ eine Cutterin. Aber der erste | |
Schnitt im Film kommt erst nach zehn Minuten. „The Right“ ist zwölf Minuten | |
lang und hat nur einen einzigen Schnitt. Viele Ihrer Filme bestehen aus | |
sehr langen Master-Shots, wieso? | |
Gruber: Eine Kamerabewegung ohne Schnitte verstärkt mein Gefühl, als | |
bildender Künstler zu arbeiten. In „Miraculous Accident“ umschließen und | |
jagen wir den Studenten Jarek und Edyta in einer wirbelnden Choreografie | |
der Kamera ohne Schnitte. Am Ende dieser Szene gesteht Edyta: „Was wäre, | |
wenn ich auf niemandes Seite stünde?“ | |
Die Szene drängt hier in die Unmöglichkeit ihres Seins. Sie fühlt, dass sie | |
nicht das Richtige tun kann. Sie glaubt an den arabischen Marxismus, an | |
Menschen wie Nadir, denen sie gerne helfen möchte, sich auszudrücken, und | |
an die säkulare Revolution, an der sie sich gerne beteiligen würde. Doch | |
die antikolonialen, antiimperialistischen Kämpfe in Nordafrika damals waren | |
oft in völliger Solidarität mit den Palästinensern. | |
Es ist ein ideologisches Dickicht in einem politisch sensiblen Moment. | |
Edyta wandert schließlich nach Israel aus. Hatte sie überhaupt eine andere | |
Wahl? | |
taz: Einige Ereignisse in „Miraculous Accident“ spiegeln Konflikte wider, | |
die nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem Krieg in Gaza | |
wieder aufgeflammt sind: der Vorwurf, jüdische Bürger seien Doppelagenten; | |
der Vergleich des Staates Israel mit Nazideutschland, die offene | |
Infragestellung des Existenzrechts Israels. Wie in Polen 1968 wird auch | |
jetzt Zionismus mit Judentum gleichgesetzt und für westliche Verbrechen | |
verantwortlich gemacht. Dennoch ist „Miraculous Accident“ keine Polemik, er | |
ist sensibel und nuanciert. Wie kam es zu diesem Film? | |
Gruber: Ich fand nordafrikanische Studentenfilme aus den 1960er Jahren im | |
Archiv der Filmhochschule in Łódź, als ich dort unterrichtete. Ich brauchte | |
eine Weile, um herauszufinden, was ich mit ihnen machen wollte. | |
Groteskerweise war ich dann im Oktober 2023 bereit, das Filmprojekt zu | |
beginnen. | |
Zu dem Zeitpunkt war es im Kunstbetrieb unmöglich, [3][Unterstützung für | |
den Film zu finden. Der schien zu komplex zu sein.] Schließlich bot | |
Ekaterina Degot, die Intendantin des Steirischen Herbst, an, ihn zu | |
produzieren. Ein großer Teil des Drehbuchs war schon geschrieben, [4][aber | |
der Krieg in Gaza, die Spaltung unserer Community in Berlin] … | |
taz: Welche ist „unsere Community“? | |
Gruber: Die Kunst-Community, die des Experimentalfilms, Palästinenser und | |
Israelis und Juden. Sie hat mich dazu gebracht, diesen Film als einen | |
Liebesbrief schreiben zu wollen. Edyta streichelt darin bei der | |
Schnittarbeit die Filmstreifen mit dem Bild von Nadirs Gesicht. Das ist | |
sehr persönlich. | |
Ich möchte mehr über den menschlichen Aspekt herausfinden, und nicht über | |
eine „Identität“. Wie könnte es sich angefühlt haben, ideologisch mit ei… | |
bestimmten Gruppe verbunden zu sein und von dritter Seite gesagt zu | |
bekommen, dass man sich nicht an deren Kampf beteiligen kann? Was passiert | |
mit Menschen in einem Prozess der gesellschaftlichen Korruption oder des | |
Absturzes? Was bleibt vom Marxismus übrig, wenn das polnische Regime | |
unmoralisch wird? | |
Ich habe das Gefühl, dass ich nur durch die Erfindung dieser Figuren | |
erfahren kann, was mit ihrer Seele und Psyche geschieht. Es ist, als würde | |
man durch einen langen Korridor laufen, in dem man nie das Richtige tun | |
kann. | |
taz: Was wäre denn das Richtige gewesen? | |
Gruber: Ich bin drei Mal eingewandert. Aber für die meisten Menschen ist | |
ein Mal schon genug. Es ist hart, erzwungene Einwanderung scheint wie eine | |
Tragödie zu sein. Das Richtige wäre vielleicht gewesen, dass Edyta, Jarek | |
und Nadir alle am selben Ort leben bleiben und ihre Beziehung zueinander | |
ausleben können. | |
taz: Ihre Filme werden auf Festivals vorgeführt oder als Kunst in | |
Ausstellungsräumen installiert. Welchen Platz haben überhaupt Objekte und | |
Bildhauerwerke in Ihrer Arbeit? | |
Gruber: Ich bin ein Bildhauer, der Filme macht. Ich bin besessen von | |
Objekten. Früher glaubte ich an einen egalitären, moralischen und | |
künstlerischen Status für alle Objekte in der Welt, ich stellte zugleich | |
Bronzeobjekte und Dinge aus, die fast nichts waren. Mich begann aber die | |
„Interpretation“ von Kunst zu nerven, und ich beschloss, die Kontrolle über | |
meine Arbeit selbst zu übernehmen. | |
So kam ich zum Film. Aber es gibt ein Hin und Her. Wenn ich das Gefühl | |
habe, dass die Filme mich erdrücken, kehre ich zur Abstraktion, zur | |
Skulptur und zur Fotografie zurück. | |
taz: Viele Ihrer Filme spielen in Kunstinstitutionen und Museen. Sind sie | |
auch als Institutionskritik zu verstehen, die seit den 1960ern eine | |
„kulturelle Enge“ von Kunstinstitutionen bemängelt und sie daher | |
ästhetisch, politisch und theoretisch angreift? | |
Gruber: Das Museum ist für mich die Allegorie einer Regierung, nicht nur, | |
weil sie Wissen oder dessen Präsentation kontrolliert. In meinen Arbeiten | |
zeige ich oft, dass die Geschichte letztlich stärker ist als die | |
Institution. „Transient Witness“ von 2022 zum Beispiel ist ein 47-minütiger | |
Film über den Transfer von Egidio Marzonas Privatsammlung „Archiv der | |
Avantgarden“ an die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. | |
Zur gleichen Zeit fand in Dresden ein besonders verlustreicher Diebstahl | |
statt, als königliche Juwelen aus dem Grünen Gewölbe im barocken | |
Residenzschloss geraubt wurden. Kurz darauf erklärte der sächsische | |
Ministerpräsident auf Twitter, dass mit den Juwelen die sächsische | |
Identität geraubt wurde. Aber gehören sie wirklich zur sächsischen | |
Identität? Während der Ministerpräsident so die Öffentlichkeit vergiftet, | |
erhält Marzonas Avantgarde-Sammlung durch die Präsentation im öffentlichen | |
Museum eine neue Wertigkeit, zudem in einem Barockgebäude, dem Japanischen | |
Palais. | |
Ich denke, die sogenannte Institutionskritik spricht kaum an, dass | |
Instanzen wie Museen häufig viel größeren Kräften dienen. Für mich ist das | |
oft eine mysteriöse Sache. Deren Phantome tauchen dann wieder in meinen | |
Filmen auf. | |
16 Mar 2025 | |
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