# taz.de -- Flämische Malerei: Die Architektur des Himmels | |
> Jan van Eyck revolutionierte mit Ölfarbe die Malerei. Der Protagonist | |
> seiner Bilder ist das Licht. „Madonna in der Kirche“ entstand um 1440. | |
Bild: Die unrealistische Größe der Madonna als Ausdruck eines „verkleideten… | |
Dieses schmale, hochformatige Gemälde führt uns durch ein Bogenfenster in | |
das opulente Kirchenschiff einer Kathedrale. Durch eine Reihe von Fenstern | |
fließt warmes Licht über die Figuren von Maria und Jesus, das sie wie | |
leuchtende Fackeln erscheinen lässt. Dennoch ist dieses Bild in der | |
Berliner Gemäldegalerie leicht zu übersehen. „Die Madonna in der Kirche“ | |
misst nur 31 mal 24 Zentimeter. | |
Es ist schwer zu fassen und beinahe hypnotisierend, wie dieser | |
hyperrealistische Raum in einem Rechteck komprimiert wurde, das nur wenig | |
größer als eine Postkarte ist. Das kindliche Gesicht der Madonna ist | |
elegant zur Seite geneigt; eine große Krone, die mit königlich blauen und | |
roten Edelsteinen verziert ist, liegt schwer auf ihrem Haupt. Wie es echte | |
Babys tun, greift der Säugling nach ihrer glitzernden Halskette. | |
Juwelen wurden auf Gemälden oft mithilfe von Blattgold oder nachgemachten | |
Edelsteinen dargestellt. Jan van Eyck aber benutzte nur ein Material, | |
Ölfarbe, um Oberflächen zu schaffen, die in sich konsistent sind und in | |
einer Kontinuität mit unserer Welt stehen. | |
Die Betrachter von van Eycks Bildern mögen in ihnen Heiligkeit zu finden | |
gehofft haben, um in physischen Kontakt mit den Gegenständen ihres Glaubens | |
zu kommen, [1][die in ihre Seele Eingang finden sollten]. Diese Heiligkeit | |
wird durch des Malers Hände mit minutiöser Genauigkeit auf die Erde | |
gebracht. Die Illusion dieser Bilder, die Fiktion der gemalten Welt als | |
realer, wird für den Betrachter nirgends durchbrochen. | |
Überraschenderweise vermindert die relativ große Figur der Madonna nicht | |
die Wirkung des großzügig bemessenen Interieurs, in dem sie sich befindet. | |
Der diagonale Blickwinkel, der uns als Betrachter in der Kirche situiert, | |
lässt die Kirche vielmehr gewaltig erscheinen. Der Rahmen des Bildes | |
schneidet die Kuppel des Chorraums an und betont dadurch, dass ihre Höhe | |
die Grenzen des Gemäldes übersteigt. | |
Mit der Einführung der Perspektive in die bildliche Darstellung am Übergang | |
zur Neuzeit verpflichtete sich die Malerei immer stärker dem Naturalismus. | |
Das Verständnis des Gemäldes als Fenster, durch das die Betrachter blicken, | |
implizierte, dass im Bildraum dieselben Regeln wie im empirischen Raum | |
gelten müssen. Doch dieser neue Naturalismus musste mit der über tausend | |
Jahre währenden christlichen Tradition versöhnt werden, wie Erwin Panofsky | |
bemerkte. | |
Denn eine nichtnaturalistische Kunst braucht die Einheit von Raum oder Zeit | |
nicht anzuerkennen. Sie kann Symbole verwenden, ohne sich um empirische | |
Wahrscheinlichkeit kümmern zu müssen. Die unrealistische Größe der Madonna | |
ist Ausdruck eines Symbolismus, der von der wahrheitsgemäßen Erscheinung | |
der Dinge aber kaschiert wird und den Panofsky deshalb „verkleideten | |
Symbolismus“ nannte. Mehr als eine Frau, Mutter oder Königin tritt uns | |
diese Madonna als eine Erscheinung gegenüber. | |
Auch der bemalte Rahmen dieses Gemäldes gehört zur alten und zur neuen Welt | |
zugleich. Das Bild war vermutlich der linke Flügel eines Diptychons. Sein | |
Rahmen simuliert ein Fenster, durch das wir auf einen imaginierten Raum | |
blicken, und ist doch mit seiner Marmor imitierenden Bemalung auch ein Teil | |
des Gemäldes, der anzeigt, dass das Bild ein greifbares Artefakt ist. Wenn | |
Gemälde in der Kunst vor van Eyck oft vor allem schöne Dinge an sich waren, | |
sind seine Gemälde nun sowohl edle Objekte als auch Welten, die sich vor | |
uns öffnen; Welten, in die wir uns einbezogen finden. | |
Wir wissen wenig über Jan van Eycks Leben, obwohl seine Gemälde, unter | |
denen auch Selbstporträts sind, die Daten enthalten, an denen er signierte. | |
Er wurde um 1390 in Maaseik bei Maastricht geboren, im Jahr 1425 wurde er | |
Hofmaler des Herzogs von Burgund in Lille. Weil er ohne Unterlass seine | |
Rivalität mit anderen Höfen pflegte, wurde der Herzog, der als Philipp der | |
Gute bekannt war, in Nordeuropa zur treibenden Kraft, Malerei und Skulptur | |
zu den führenden Künsten zu machen. Raffinierte Luxusobjekte wie Schmuck | |
oder Tapisserien wurden als Währungen und Symbole von Herrschaft und | |
Reichtum von der Malerei abgelöst. | |
Neben seiner Funktion als Hofkünstler führte van Eyck private Aufträge aus. | |
Dazu gehörte ein Polyptichon für den Altar einer Privatkapelle in Gent. Mit | |
seinem Lamm mit menschlichem Antlitz gilt das Altarwerk als Anstoß für eine | |
Revolution des Bildes – zusammen mit dem Doppelporträt „Die | |
Arnolfini-Hochzeit“ (wobei weder Arnolfini noch eine Hochzeit als sicher | |
gelten), das vermutlich einen italienischen Händler mit seiner Frau in | |
Brügge zeigt. Dieses Bild, das heute in der National Gallery in London | |
hängt, ist eines der verblüffendsten Gemälde überhaupt. Sein Realismus, der | |
sich unter anderem in Gestalt eines Spiegels, der den Raum und | |
möglicherweise den Künstler reflektiert, selbst entdeckt, lässt uns für | |
immer im Unklaren, ob das, was er zeigt, [2][nicht nur die Täuschung | |
selbst] ist. | |
Giorgio Vasari erklärte in der 1568 erschienenen Ausgabe seines Buchs | |
„Leben der ausgezeichnetsten Maler Bildhauer und Baumeister“ van Eyck zum | |
Erfinder der Ölmalerei. Die Ölmalerei gab es lange vor van Eyck, aber seine | |
Methode war radikal neu. Sie beeinflusste die Malerei durch ihre schnellen | |
Trocknungsprozeduren, durch die vereinfachte Transportierbarkeit der | |
Tafeln und Leinwände und schließlich durch die neuen Möglichkeiten, die | |
menschliche Haut darzustellen, die auf übereinandergelegten Farbschichten | |
und Glasuren basierten, um sattere Effekte zu erzielen. Jede Farboberfläche | |
reflektiert das Licht anders, wie es die Materialien tun, die diese | |
Oberflächen repräsentieren; die Farbe nimmt den Charakter dessen an, was | |
sie repräsentiert. | |
Statt seine Gemälde dem ähneln zu lassen, was er sah, scheint van Eyck | |
versucht zu haben, das Gesehene neu zu schaffen. Mit van Eyck offenbarte | |
sich Ölfarbe als unausweichliches, notwendiges Instrument, das die Malerei | |
erst zu dem herausragenden Medium der Kunst machte, das sie bis zum | |
heutigen Tag ist. | |
Das Licht, das von der linken Seite der Kathedrale hereinfällt, impliziert | |
eine Welt außerhalb des Bildes und einen sonnigen Tag. Wenn diese | |
realistisch gemalte Kirche wie die meisten mittelalterlichen Kirchen und | |
Kathedralen nach Osten ausgerichtet ist, sollte die Sonne aber von der | |
anderen Seite ins Gebäude scheinen. Das von Norden einfallende Licht | |
bestätigt, dass diese Kathedrale, so akkurat und realistisch sie auch | |
gemalt ist, kein existierendes Kirchengebäude zeigt. | |
Diese Kirche ist mehr als ein Gebäude. Im Gegensatz zum irdischen ist das | |
himmlische Jerusalem, das nach dem Ende der Zeit bewohnt werden wird, nicht | |
geografisch festgelegt; deshalb war es nur plausibel, das himmlische | |
Jerusalem als die europäische Stadt darzustellen, die der Künstler besucht | |
hatte oder in der er lebte. | |
Die Interpreten sind sich über die Bedeutung dieses Lichts aus dem Norden | |
nicht einig, aber auf dem Saum der majestätischen roten Robe der Jungfrau | |
Maria ist ein weiterer Hinweis auf göttliches Licht in Gestalt eines | |
lateinischen, in goldenen Lettern verfassten Texts gestickt: „Sie ist | |
herrlicher als die Sonne und übertrifft alle Sternenbilder. Verglichen mit | |
dem Licht hat sie den Vorrang.“ Dieser Vers entstammt dem apokryphen „Buch | |
der Weisheit“, in dem es drei Zeilen zuvor heißt: „Sie ist die Helligkeit | |
des ewigen Lichts und der makellose Spiegel von Gottes Majestät.“ Die | |
Jungfrau Maria ist ein perfekt reflektiertes Licht, dessen Quelle Gott ist. | |
## Der Künstler kann Licht und Leben schaffen | |
Licht ist in den späten Werken van Eycks zu einem beinahe autonomen | |
Protagonisten geworden. Es ist nun nicht mehr ein bloßes Vehikel, um die | |
Materialität und das Volumen aller Oberflächen mit den Mitteln der | |
Ölmalerei zu definieren, sondern eine Instanz, die mehr zur Erzählung des | |
Bildes beiträgt als jede menschliche Handlung. | |
Ein kleines Duplikat der Madonna in Form einer Statue, die zwischen zwei | |
brennenden Kerzen steht, ist hinter ihr im Bild zu sehen. Diese in | |
Grisailletechnik gemalte Steinskulptur manifestiert nicht nur den Gedanken | |
des Paragone – des Wettstreits der Künste über die Frage, welche Kunstform | |
die überlegene sei – sondern intensiviert noch einmal die lebensechte | |
Weise, in der die „echte“ Madonna gemalt ist (wodurch wiederum darauf | |
hingewiesen wird, dass auch sie nicht echt ist). | |
Wie ein geringerer Gott kann der Künstler Licht und Leben schaffen. Van | |
Eyck signierte alle seine Werke mit dem Motto Als ich can. Er verweist | |
damit sowohl auf ein Gefühl der Omnipotenz als auch auf eine Anerkennung | |
der weltlichen Beschränkungen. Wie eine göttliche Tat verbirgt seine | |
Malerei, dass sie gemalt, jemals „gemacht“ worden ist, und zeigt zugleich | |
die akribische Arbeit, die ihr zugrunde liegt – weswegen van Eyck den Preis | |
für Gemälde auf dem Markt in der Tat nach oben trieb. | |
6 Dec 2020 | |
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