| # taz.de -- Fotoband über die A100: Der Preis, den die Stadt zahlt | |
| > Für das Buch A100 fotografierte Rolf Schulten die Berliner Stadtautobahn. | |
| > Es zeigt das Porträt einer bröckelnden Kluft in der sonst so dichten | |
| > Stadt. | |
| Bild: Noch stehen sie: die Brücken der Berliner Stadtautobahn in Rolf Schulten… | |
| Zum Schluss: Radfahrer. Die letzte Aufnahme aus der Serie über die [1][A | |
| 100], vom Mittelstreifen aufgenommen, Tunnelausfahrt Innsbrucker Platz: Die | |
| Fahrbahnen rechts sind gesperrt, links Radfahrer auf der Autobahn. | |
| Das Bild hat eine andere Färbung als die Serie zuvor, da radeln Menschen | |
| entspannt, eine große Gruppe, Klönschnack, Lachen. Auf Aufnahmen zuvor | |
| standen Menschen vereinzelt herum, verloren vor Sichtbeton. Beugten sich | |
| allenfalls über eine Motorhaube, ein Defekt verhindert ihr Fortkommen, | |
| während wir ruhelosen Verkehr auf Brückenzügen darüber ahnen. | |
| Die Radler sind Ausnahmen von der Regel: Wo sonst Lärm tost, sich | |
| tonnenschwere Automobile, Lastwagen, Lieferfahrzeuge in engen Kolonnen | |
| drängen, bewegen sie sich luftig gestaffelt durch die streng gestaltete | |
| Straßenscharte. Rolf Schulten beendet damit sein Porträt eines Halbkreises | |
| um Berlin: die Bundesautobahn 100, 28 Kilometer vom Nordwesten bis hinter | |
| den Neuköllner Schifffahrtskanal, bevor sie sich in der A 133 nach | |
| Brandenburg verliert. | |
| Der Druck der Beschleunigung, wissen Soziologen, die stumme normative | |
| Gewalt, [2][wie sie Hartmut Rosa nennt], verdirbt vieles. Auch im Stadtbild | |
| kann man ihr nachspüren: für einen vermeintlichen Zugewinn an Zeit, für | |
| mehr Durchsatz wurden Straßen verbreitert, Schneisen gegraben, Kurven | |
| geöffnet. Für Beschleunigung wurde Landschaft planiert, Brücken geschlagen, | |
| Bachläufe zugeschüttet. | |
| ## Das Auto als Versprechen der Beschleunigung | |
| Das Auto war über Generationen Versprechen und Vehikel der | |
| Geschwindigkeitszunahme, dafür zogen Verkehrsplaner mehrspurige | |
| Asphaltbänder um Städte. In Berlin arbeiten wir seit Jahrzehnten daran, den | |
| Ring zu schließen – Rolf Schulten fasst die Konsequenzen bis hierher | |
| zusammen. | |
| Autobahnen fotografisch zu untersuchen, als Semiologie aus Verbindung und | |
| Trennung, Fortschritt und Zerstörung, ist kein ganz taufrisches Sujet. Grob | |
| überblickt, wich in den letzten Jahrzehnten der Optimismus aus den Bildern. | |
| Jörg Brüggemann protokolliert harsche Eingriffe in Landschaften, Christoph | |
| Naumann trug eine Bildstrecke entlang der A3 zusammen, die den Klangteppich | |
| des Verkehrs illustriert; Michael Tewes rückt kühle Geometrien entlang der | |
| Fernstraßen in den Blick, Sue Barr folgt dem Brücken-Brutalismus in | |
| Bergtälern, über Siedlungen. | |
| Rolf Schulten bleibt in Berlin. Er blickt auf den Preis, den die Stadt für | |
| den Bogen ums westliche Stadtzentrum entrichtet. Und der, kann man | |
| zusammenfassen, ist nicht gering. Schulten schaut auf die A100 im Moment | |
| der Leere, als ungenutzte Stadtmöblierung. Als Schneise oder durch | |
| Siedlungen gezogene Brückentrasse – oft nur ein paar Meter vor | |
| Gründerzeitfassaden. Brandmauern wenden sich der Fahrbahn zu, weisen auf | |
| das, was da fehlt: das nächste Gebäude, der Zusammenhang. | |
| Schallschutzmauern sollen Wohnsiedlungen vor brüllendem Lärm bewahren, sie | |
| sind grau, gerastert, unansehnlich. Wenn frühe Morgensonne in robusten | |
| Fliesen schimmert, kann man kurz an Jacques Tati denken, in einem seiner | |
| Filme erscheinen die Wahrzeichen von Paris nur noch als Spiegelungen in | |
| Glastüren. Bei Schulten sind es Naturphänomene. | |
| ## Rolf Schulten öffnet den Blick | |
| Er öffnet den Blick für den immensen Aufwand, mit dem die vergleichsweise | |
| banale Tätigkeit des Autofahrens abgesichert werden muss: Damit das Tempo | |
| hoch bleiben kann, müssen breite Fahrbahnen mit kräftigen Leitplanken | |
| versehen vom Gegenverkehr getrennt werden. Fußgänger müssen mit Mauern | |
| geschützt, geleitet, ihnen müssen Zugänge verwehrt werden. | |
| Und so furunkeln Betonplatten zu vertikalen Bändern, hier und da braucht es | |
| bald Eisenspitzen, Stacheldraht. Spiegel machen von der Trasse bedrängte | |
| Ausfahrten einsehbar. Eine Autobahn in der Stadt, scheint Schulten zu | |
| betonen, ist eine ingenieurstechnische Verdrängungsleistung. Wir erahnen | |
| sie, [3][wenn mal eine Brücke zu früh zerbröselt]. | |
| Vor allem die in den 1970er Jahren vorangetriebenen Bauabschnitte scheinen | |
| auch ästhetisch in den Stadtraum zu greifen: Hochgezogenen Wohnhäuser sehen | |
| selbst wie Schallschutzmaßnahmen aus, wenn Schulten Neubauten entdeckt, | |
| springt einen die Herzlosigkeit der Fassaden an. Bessere Wohngegenden | |
| liegen woanders. | |
| Rings um die Autobahn wirkt die Stadt vernutzt, vergilbt, vergraut: Schmutz | |
| legt sich auf Fassaden, das schüttere Abstandsgrün an Böschungen wirkt für | |
| sich schon wie die Bepflanzung einer Müllkippe. Es wundert wohl niemanden, | |
| wenn hier irgendwer seine alte Kloschüssel entsorgt. Auch die findet Rolf | |
| Schulten in seiner Serie über die Folgen der Beschleunigung. | |
| 26 Mar 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lennart Laberenz | |
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