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# taz.de -- Kritik an Social Media und Spielfilm: Kino ohne Außerhalb
> Der Filmhistoriker Lars Henrik Gass kritisiert in einem Buchessay den
> Stellenwert von Spielfilmen. Kino spiegle die narzisstische Gesellschaft
> wider.
Bild: Für Lars Henrik Gass ist Greta Gerwigs „Barbie“-Verfilmung eine „G…
Wir leben in einer narzisstischen Gesellschaft. Zumindest kann man sich
diesen Eindrucks kaum erwehren. Sozialen Netzwerken wird seit Jahren
nachgesagt, in ihrer Funktionsweise narzisstische Tendenzen zu befördern.
Auf Instagram und Tiktok verbreiten Life Coaches oder Menschen, die sich
für solche halten, Theorien über angeblich weit verbreitete narzisstische
Persönlichkeitsstörungen. Manchem Politiker wird, ob zutreffend oder nicht,
allzu gern per Ferndiagnose ein pathologischer Narzissmus attestiert. Und
der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz diagnostiziert unserer nach ewigem
Wachstum strebenden Gesellschaftsform gar einen kollektiven Narzissmus.
Es verwundert daher nicht, dass derart gestaltete Diagnosen irgendwann auch
auf kulturelle Erzeugnisse angewendet werden. Lars Henrik Gass, ehemaliger
Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen und Gründungsdirektor des erst im
Entstehen begriffenen Hauses für Film und Medien in Stuttgart, meint zu
erkennen, wie das gegenwärtige Kino narzisstische
Gesellschaftsentwicklungen widerspiegelt.
## Programmatischer Titel
So trägt sein kürzlich erschienener, rund 100 Seiten umfassender Essay den
programmatischen Titel „Objektverlust. Film in der narzisstischen
Gesellschaft“. Laut Gass setze sich eine „neue Wahrnehmungsökonomie des
Kinos durch, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten am Internet als
prägender sozialisierender Erfahrung ausgebildet hat“.
Jene Filme, die diese Tendenz aufweisen, „richten sich vor allem an
westliche Mittelschichten, für die Film im Zuge der digitalen Entwicklung
und der allgemeinen Deregulierung von Arbeitsverhältnissen Bestandteil
eines stark veränderten Freizeitverhaltens wurde“.
## Rekurs auf Siegfried Kracauer
Das Kino habe nicht mehr ein von Neugier getriebenes Erkenntnisinteresse
zum Ziel. Im Gegenteil, im Kino der Gegenwart spiegele sich die
Gesellschaft in einem narzisstischen Akt nur selbst. Um seine These zu
begründen, rekurriert Gass in seinem ideologiekritischen Verständnis von
Kino auf den Architekten, Soziologen und Filmtheoretiker Siegfried
Kracauer, der die technisch vermittelte Beziehung zur „äußeren
Wirklichkeit“, also zur physischen Realität und deren sozialen
Verhältnissen, als die eigentliche Leistung des Kinos verstand.
Mit den Erfahrungen des Faschismus im Bewusstsein schrieb Kracauer dem Kino
das emanzipatorische Potenzial zu, „falsches Bewusstsein, den
geschichtlichen Alptraum durch kollektive Therapie zu überwinden“, wie Gass
schreibt. Kino als Form von Teilhabe und Öffentlichkeit also, die
Gesellschaft (um)gestaltet. Keiner filmhistorischen Bewegung wird diese
Fähigkeit so sehr zugeschrieben wie dem italienischem Neorealismus, dessen
Filme den Lebensalltag der einfachen Menschen in der Nachkriegszeit
verhandelten.
Filme wie [1][Greta Gerwigs „Barbie“], der für Gass eine „Großerzählun…
instagramibilen Narzissmus“ darstellt, könnten sich ein Außerhalb der
Warenwelt gar nicht mehr vorstellen. In Filmen von Giorgos Lanthimos, Paolo
Sorrentino oder Mia Hansen-Løve betrachte sich die Mittelschicht nur noch
selbst, „doch nicht im Sinne einer Abbildung, nicht im Sinne einer
womöglich kritischen Darstellung der materiellen Bedingungen ihrer
Existenz, sondern in ihrer Haltung zur Wirklichkeit, in ihrer Weltsicht“.
Der Objektverlust, von dem im Buchtitel die Rede ist, beschreibt den
Verlust einer äußeren Wirklichkeit, für die sich das Gegenwartskino, das
nur noch auf sich selbst gerichtet ist, nicht mehr interessiert. Der Essay
ist eine so gehalt- wie anspruchsvolle Lektüre, die lohnenswert ist. Mit
ihr kann sich auch eine Filmkritik selbst befragen, die sich zunehmend auf
Geschmacksurteile zurückzieht und den Bezug zum gesellschaftlichen Ganzen
verliert.
## Prägnant formulierte Gedankengänge
Seine Gedankengänge formuliert Gass dabei in bestechend prägnanten Sätzen:
„Kino bildet gesellschaftliche Verhältnisse nicht mehr ab, es ist Teil von
ihnen.“ Oder: „Das narzisstische Kino ist ein Kino des Geschmacks, der
Ausdifferenzierung, der Verfeinerung, das nichts zu erzählen, nichts zu
entdecken hat, aber dem zeitgenössischen Bedürfnis nach einer
unterhaltsamen Melange von Kritik und Schauwert bedenkenlos entgegenkommt,
ohne künstlerisch freilich allzu große Ansprüche zu stellen.“
Manchmal wünscht man sich eine stringentere Argumentation, vieles bleibt im
Modus des Postulats. Zudem ist es schade, dass Gass die überzeugendste
Beweisführung seiner These des Objektverlusts ausgerechnet an [2][„Der
talentierte Mr. Ripley“ von Anthony Minghella] vornimmt, einem Film, der
über 25 Jahre alt ist. Sein Blick auf das Kino ist dennoch meist so
schonungslos wie erhellend.
Etwa wenn er [3][Ruben Östlunds vermeintlich antikapitalistischen Film
„Triangle of Sadness“] jegliche „gesellschaftliche Positionen oder
Klassenstandpunkte“ abspricht, in der „Stirb langsam“-Reihe hingegen eine
„Fortschrittserzählung des Universalismus“ erkennt.
29 Mar 2025
## LINKS
[1] /Barbie-als-Realverfilmung/!5945196
[2] /Regisseur-von-Der-englische-Patient/!5184918
[3] /Satire-Triangle-of-Sadness-im-Kino/!5884017
## AUTOREN
Tobias Obermeier
## TAGS
Theorie
Spielfilm
Narzissmus
Essay
Social Media
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TV-Serien
Oberhausen
Antisemitismus
Feminismus
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