| # taz.de -- Kurzfilmtage Oberhausen: Viel Schwung und ein paar deutliche Risse | |
| > Unter neuer Leitung zeigen die 71. Internationalen Kurzfilmtage | |
| > Oberhausen ein breites Programm mit viel Osteuropäischem- aber auch | |
| > Lücken. | |
| Bild: Der kirgisische Regisseur Ilgiz-Sherniiaz Tursunbek uulu folgt mit der Ka… | |
| Von rechts füllt eine Herde – oder besser: ein Meer – von Schafen die | |
| Leinwand, in das Mähen mischt sich das Wiehern der Pferde der Hirten. | |
| Einsetzender Regen dämpft die Lautstärke der Tiere, kurz scharen sich die | |
| Hirten um einen kleinen Jungen, der den Reitern Regenjacken reicht. Der | |
| kirgisische Regisseur Ilgiz-Sherniiaz Tursunbek uulu folgt mit der Kamera | |
| einer Hirtenfamilie, die mit ihrer Herde auf dem Weg zu den Sommerweiden | |
| ist. Sein Kurzdokumentarfilm zeigt die Härten ihres Alltags und die Nähe | |
| ihres Zusammenseins. | |
| „Long Way to the Pasture“ wurde am Sonntag mit dem großen Preis der Stadt | |
| Oberhausen und dem Zweiten Preis der Jury des nordrheinwestfälischen | |
| Kulturministeriums ausgezeichnet, dem Hauptpreis der 71. Internationalen | |
| Kurzfilmtage Oberhausen, die vom 29. April bis 4. Mai stattfanden – zum | |
| ersten Mal unter neuer Führung. | |
| Nach fast 30 Jahren als Leiter der Kurzfilmtage gab Lars Henrik Gass im | |
| vergangenen Herbst seine Position auf, um Gründungsdirektor des noch im | |
| Aufbau befindlichen Hauses für Film und Medien in Stuttgart zu werden. | |
| Anfang 2025 haben Madeleine Bernstorff und Susanna Pollheim die Leitung | |
| des Festivals übernommen. | |
| Die neue Leitung beginnt in turbulenten Zeiten: Letztes Jahr hatten Teile | |
| der Filmwelt auf ein [1][Statement von Gass] nach dem Massaker der Hamas in | |
| Israel im Oktober 2023 mit einem Boykott des Festivals reagiert. Schon mit | |
| der Eröffnung, in der vor allem Madeleine Bernstorff durch den Abend | |
| wirbelte, machte die neue Leitung sichtbar, dass es trotz einiger | |
| Kontinuitäten auch um eine sanfte Neuausrichtung geht. | |
| ## Zweifelhafte Solidaritätserklärung | |
| Das Letzte, was von Gass bekannt wurde, war dessen Unterzeichnung einer | |
| zweifelhaften Solidaritätserklärung des Hamburger Althistorikers Burkhard | |
| Meißner mit dem Historiker [2][Benjamin Hasselhorn], der unter Pseudonym in | |
| der neurechten Zeitschrift Sezession publiziert hatte. | |
| Schon vor dem Festival hatten die neue Leitung und ihr Team in einer | |
| gemeinsam publizierten Erklärung das Selbstverständnis das Festivals als | |
| Forum für „unterschiedliche künstlerische Ausdrucksweisen im Bereich des | |
| Kurzfilms“ verteidigt. Beim Besuch der Kurzfilmtage muss man leider | |
| feststellen, dass der Versuch, Brücken zu bauen, kaum gefruchtet hat und | |
| dass sich der Riss durch die Festivalwelt verstetigt hat. Am sichtbarsten | |
| ist das bei den Programmen, in denen Kurzfilmverleihe und -archive aus | |
| aller Welt ihre Kollektionen vorstellen. Präsentierte bis vor zwei Jahren | |
| noch gut ein Dutzend Institutionen Filme, sind aktuell davon nur noch vier | |
| übrig geblieben. | |
| Einen Teil der Lücke im Programm füllte eine Hinwendung zu Facetten der | |
| Filmgeschichte, die noch von Gass initiiert wurde. Die Wettbewerbe | |
| (international, deutsch, regional) präsentierten auch in diesem Jahr eine | |
| große Bandbreite des experimentellen Kurzfilms. Unter den Preisträgern | |
| finden sich in diesem Jahr zahlreiche osteuropäische Filme und solche zu | |
| osteuropäischen Themen. | |
| Neben „Long Way to the Pasture“ wurde auch Elena Kuleshs an der Sankt | |
| Petersburger Filmakademie entstandener Kurzfilm „Crumb“ ausgezeichnet | |
| (Erster Preis des nordrheinwestfälischen Kulturministeriums). Kulesh zeigt | |
| einen Jungen in einem Waisenheim, der sich während eines Praktikums in | |
| einer Bäckerei in einen Kollegen verliebt. | |
| „The Palace Square“ von Mikhail Zheleznikov zeigt die Alexandersäule auf | |
| dem Palastplatz in Sankt Petersburg als Zeitachse. Der Film wurde mit dem | |
| Hauptpreis der internationalen Jury ausgezeichnet. Die polnische | |
| Animationsfilmerin Weronika Szyma erhielt für „Drogi Leo Sokolosky“, einen | |
| filmischen Brief an einen toten Freund und Wegbegleiter ihres Urgroßvaters, | |
| der den Zweiten Weltkrieg in einem Arbeitslager in Ansbach überlebte, den | |
| Preis der Ökumenischen Jury. | |
| Der Hauptpreis im deutschen Wettbewerb ging an den Film „Hay un dolor“ von | |
| Froilán Urzagasti. Urzagastis Film kombiniert drei Szenen, in denen in | |
| einer Kombination aus Dokumentarischem und Fiktionalem Fremdheit und | |
| Vertrautheit, Entfremdung und Nähe sichtbar werden. „Hay un dolor“ (auf | |
| Deutsch: „da ist ein Schmerz“) verbindet ein beeindruckendes Gespür für | |
| Bilder und deren Zusammenspiel mit einer empathischen Beobachtungsgabe. | |
| [3][Christoph Girardet] hat Anfang der 2000er Jahre bereits zwei Mal den | |
| Preis für den besten deutschen Beitrag gewonnen. Sein aktueller Film „One | |
| Hundred Years Later“ lief dieses Jahr im deutschen Wettbewerb. Girardet | |
| konstruiert aus Footage, das für Frank Capras „Mr Smith Goes to Washington“ | |
| entstand, und einem Satz aus Abraham Lincolns berühmter Ansprache bei der | |
| Weihung des Soldatenfriedhofs auf dem ehemaligen Schlachtfeld von | |
| Gettysburg, einer der entscheidenden Schlachten des US-Bürgerkriegs, einen | |
| Resonanzraum US-amerikanischer Selbstbilder. Capras Film, den das Footage | |
| aus dem Lincoln Memorial aufgreift, beschwor 1939 die Selbstheilungskräfte | |
| der US-Demokratie. | |
| ## Unprätentiös und charmant | |
| Der Titel von Girardets Film stammt aus Martin Luther Kings berühmter Rede | |
| „I have a dream“, in der er 1963 auf den Stufen des Lincoln Memorial | |
| zentralen Forderungen der Bürgerrechtsbewegung Nachdruck verlieh. Die | |
| verschiedenen medialen Schichten des Films verdichten sich zu einem | |
| überzeitlichen Spannungsfeld aus Stilisierung eines Ideals und Anklage der | |
| brutalen Realitätserfahrung. „One Hundred Years Later“ ist eine komplexe | |
| Annäherung an die Geschichte USA unter dem Eindruck ihrer faschistoiden | |
| Gegenwart. | |
| Die Kurzfilmtage in Oberhausen bleiben auch in ihrer 71. Ausgabe ein | |
| unverzichtbares Forum für den experimentellen Kurzfilm. Der Schwung der | |
| ebenso unprätentiösen wie charmanten Eröffnung hat nicht nur Lust auf die | |
| diesjährige Ausgabe des Festivals gemacht, sondern wirkt darüber hinaus. | |
| Transparenzhinweis: In einer ersten Version war hier vom „niedersächsischen | |
| Kultusministerium“ die Rede. Es geht natürlich um das | |
| nordrheinwestfälische. Wir haben den Fehler korrigiert. | |
| 5 May 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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