# taz.de -- Serbien besiegt die Angst: Das Volk gegen Vučić | |
> Studierende besetzen Unis, marschieren durchs Land und entfachen einen | |
> Aufstand gegen das korrupte Regierungs-System. Vučićs Rückhalt im Land | |
> schwindet. | |
Bild: 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Forderungen der serbischen … | |
Belgrad taz | „Bitte vergessen Sie nicht, dass wir vom Geheimdienst | |
abgehört werden“, sagt Ivan Đurić. Er und seine Kollegin Tamara Branković | |
arbeiten für CRTA, eine der vier regierungskritischen Organisationen, bei | |
denen die Polizei kürzlich Razzien durchgeführt hat. 28 Stunden lang wurden | |
die Räume durchsucht und alles fotokopiert, was sich fotokopieren lässt. | |
Die Behörden begründen dies mit angeblicher Veruntreuung von USAID-Geldern. | |
Tatsächlich geht es darum, CRTA als Teil einer Farbrevolution darzustellen | |
– eines aus dem westlichen Ausland finanzierten Staatsstreichs. | |
Seit dem Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad am 1. November wird | |
[1][in Serbien protestiert.] Die Demonstrant:innen üben scharfe Kritik | |
an der Korruption der regierenden serbischen Fortschrittspartei SNS, die | |
sie für den Tod von 15 Menschen verantwortlich machen. Sie fordern eine | |
Veröffentlichung aller mit dem Bau in Zusammenhang stehenden Dokumente und | |
eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen. | |
Die Demos finden im ganzen Land statt. Tamara Branković sieht viel Hoffnung | |
in den seit über vier Monaten anhaltenden Protesten, die von Studierenden | |
initiiert wurden: „Die Proteste haben Serbiens politische Kultur neu belebt | |
– eine engagierte Generation verändert, wie diese Gesellschaft Politik, | |
Beteiligung und Rechtsstaatlichkeit begreift.“ | |
CRTA führt repräsentative Studien durch, die [2][Serbiens Präsidenten | |
Aleksandar Vučić] missfallen dürften. Sie fanden heraus, dass 80 Prozent | |
der Bevölkerung die Forderungen der Studierenden unterstützen und zwei | |
Drittel sich in irgendeiner Form an den Protesten beteiligen. Zudem | |
betreibt CRTA die Faktencheckseite „Istinomer“, die Desinformation | |
aufdeckt. Đurić nennt ein Beispiel: „Vučić wirft dem Rektor einer | |
Universität vor, einen Militärputsch zu planen. Es gab viele Putsche in der | |
Geschichte, aber nicht von Universitätsdirektoren.“ | |
## „Die Angst hat die Seiten gewechselt“ | |
Neben Einschüchterungen werden auch andere Methoden angewendet. So wurden | |
gegen fünf Mitglieder der liberalen Partei PSG 30 Tage Untersuchungshaft | |
verhängt, weil ihnen vorgeworfen wird, einen Umsturz vorbereitet zu haben. | |
Gegenüber der taz erklärt die Partei: „Es gibt keine belastbaren Beweise. | |
Diese Untersuchungshaft ist ein Beispiel für die fortgesetzte Repression | |
des Regimes, das erneut skrupellos sowohl gesetzliche als auch | |
verfassungsrechtliche Bestimmungen verletzt.“ | |
Die Büros von CRTA liegen fußläufig entfernt vom Parlament und vom | |
Präsidentensitz in Belgrad. Dort zeigt sich, wie Vučićs Strategien ins | |
Leere laufen. Im Pionirski Park stand eine Zeltstadt mit angeblichen | |
Studierenden, die zurück an die Unis wollten, doch viele entpuppten sich | |
als SNS-Funktionäre. Schläger und für Exekutionen in den 1990ern bekannte | |
Einheiten kamen zum Park, um die Demonstrierenden einzuschüchtern, doch die | |
Studierenden machten sie zu Memes in den sozialen Medien. | |
Rund um den Park ließ die Regierung am Freitag Hunderte Traktoren | |
aufstellen, um zu zeigen, dass sie Unterstützung von Bauern erhält. Nur, | |
Bauern waren nicht zu sehen. Bei dem Massenprotest mit rund 300.000 | |
Menschen war auf einem Schild zu lesen: „Die Angst hat die Seiten | |
gewechselt“. In ihren Heimatorten wurden SNS-Funktionäre teils | |
beschimpft, in der Kleinstadt Obrenovac mit Eiern beworfen. Auch in | |
ländlichen Regionen wird ihnen offen Verachtung entgegengebracht. | |
Alles deutet darauf hin, dass die Proteste am vorigen Samstag durch eine | |
Schallkanone aufgelöst wurden. Plötzlich rannten Menschen los, suchten | |
Schutz in Seitengassen und Hauseingängen. Hunderte Zeug:innen berichten | |
von einem lauten Knall. Viele litten danach unter Schlafstörungen und | |
Benommenheit. Zunächst bestritten die Behörden, solche Waffen zu besitzen. | |
Dann hieß es, die Waffe liege ungenutzt im Keller, doch Fotos belegen, dass | |
sie draußen stand. Die Version des serbischen Innenministers Ivica Dačić | |
lautet inzwischen, dass die Schallkanone zwar da war, aber nur als | |
Lautsprecher genutzt wurde. Vučić erklärte, er werde zurücktreten, wenn | |
bewiesen werde, dass eine Schallkanone eingesetzt worden sei. Laut | |
Investigativnetzwerk BIRN hat die serbische Polizei die illegale | |
Schallkanone im November 2023 gegen Geflüchtete eingesetzt. Ein | |
Lehrbuchbeispiel, wie Repression, die zuerst gegen „Fremde“ gerichtet wird, | |
später nach innen schlägt. | |
## Markus Söder nahm einen Orden von Vučić entgegen | |
Während Vučićs Rückhalt im Land schwindet, erhält er internationale | |
Unterstützung. Der chinesische Präsident Xi und Russlands Präsident Putin | |
stehen auf seiner Seite. Donald Trump Jr. besuchte ihn jüngst in Belgrad – | |
wohl auch wegen eines 500 Millionen Euro teuren Immobilienprojekts seines | |
Schwagers Jared Kushner. | |
Von der EU gibt es bisher keinen öffentlichen Druck auf Vučić. | |
[3][Bundeskanzler Scholz sicherte sich Lithium] für die deutsche | |
Autoindustrie. Frankreichs Präsident Macron verkaufte Kampfjets. | |
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen lobte Serbiens EU-Kurs und | |
Rechtsstaatlichkeit. CSU-Chef Söder nahm in Belgrad einen Orden von Vučić | |
entgegen. Das alles binnen weniger Monate. | |
Vučićs SNS bleibt weiter assoziiertes Mitglied der Europäischen Volkspartei | |
EVP, der auch CDU und CSU angehören. Die EU stellt sich nicht hinter die | |
Proteste für Rechtsstaat und Demokratie in Serbien, also stellen sich die | |
Studierenden auch nicht hinter EU-Flaggen. Die Proteste unterlaufen Vučićs | |
Strategien, weil sie basisdemokratisch in Plenen organisiert sind. Die | |
Studierenden verhindern, dass sich Gesichter des Protests etablieren. Den | |
Rücktritt von Premierminister Vučević im Januar ignorierten sie weitgehend. | |
Sein Rücktritt habe nichts mit ihren Forderungen zu tun – einer Rückkehr zu | |
Rechtsstaatlichkeit, Verfassung und funktionierenden Institutionen. Die | |
Studierenden fordern Vučićs Rücktritt nicht explizit – weil sie seine | |
Autorität nicht anerkennen. „Nije nadležen“ ist ihr Leitsatz: „Er ist n… | |
zuständig.“ Serbien ist laut Verfassung kein Präsidialsystem. | |
[4][Die Studierenden ignorieren die Lügen regierungsnaher Medien und | |
schaffen ihre eigene Sprache]. Zentral ist das „Pumpanje“ – das Pumpen, | |
inspiriert von einem Youtube-Video, das einen Turbofolksänger auf einer | |
Hochzeit zeigt, der seinen Akkordeonspieler zum „Pumpen“ auffordert, | |
während ein 100-Euro-Schein an seiner schweißnassen Stirn klebt. Häufig | |
sind die „blutigen Hände“ zu sehen – als Anklage in Richtung derer, deren | |
Korruption tötet. | |
## Die Proteste sind extrem divers | |
Die regierungstreuen Fakestudenten werden „Ćaci“ genannt – eine | |
fehlerhafte Schreibweise von „Đaci“ in einem regierungstreuen Graffiti. | |
„Đaci“ heißt „Schüler“, „Ćaci“ heißt gar nichts, hat sich nun … | |
Begriff etabliert. Bei den Protesten wird skandiert: „Wer nicht springt, | |
ist ein Ćaci.“ Daraufhin springen alle. | |
Viele Studierende kommen aus Arbeiter-, Bauern- und Angestelltenfamilien. | |
Sie haben ihre Eltern und Großeltern überzeugt, dass sie keine | |
ausländischen Söldner sind, sondern gegen Korruption kämpfen. In Serbien | |
zählt Loyalität zur SNS oft mehr als Leistung – die Partei hat laut eigenen | |
Angaben 800.000 Mitglieder in einem Land mit 6,6 Millionen Einwohnern. | |
Die Proteste sind extrem divers. Die meisten Fakultäten sind besetzt, auch | |
in Novi Pazar, wo die Studierenden mehrheitlich Bosniakinnen und Bosniaken | |
sind. Ihre nationalen Symbole gehören zum Protest, wie die Flagge der Roma. | |
Ein weit verbreiteter Slogan enthält eine homophobe Beleidigung gegen Vučić | |
– angestimmt von den Ultras von Partizan Belgrad. Auch Rechtsextreme sind | |
dabei, für die Vučić nicht rechts oder Putin-nah genug ist. | |
Wie sehr die Unterstützung für Vučić bröckelt, zeigt auch, dass jetzt viele | |
behaupten, schon immer gegen ihn gewesen zu sein. Vučić wirkt hilflos. Hohe | |
Polizeifunktionäre erklärten schon, dass sie nicht ihre eigenen Kinder | |
schlagen werden. Ein gewaltsames Durchgreifen würde Vučić endgültig zum | |
Diktator à la Lukaschenko machen. | |
Mit Neuwahlen, wie von Vučić in Aussicht gestellt, lässt sich nicht viel | |
erreichen, solange sie von Regierungstreuen ausgezählt werden. Freie und | |
faire Wahlen bräuchten demokratische Rahmenbedingungen. Dafür müsste eine | |
Übergangsregierung her, doch Vučić weigert sich. Er erklärte in seiner | |
typisch überdrehten Art, dass man ihn dafür erst töten müsse. Die | |
Studierenden haben indes klargestellt, dass sie weiter pumpen werden. | |
21 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Krsto Lazarević | |
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