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# taz.de -- Wissenschaftliche Publikationen: Die Schreibtischrebellion
> Redaktionen wissenschaftlicher Fachzeitschriften treten zunehmend aus
> Protest zurück. Sie sind unzufrieden mit dem Geschäftssystem der Verlage.
Bild: Universitätsbibliotheken zahlen viel Geld an die Verlage für Zugang zu …
Berlin taz | Wenn sich Leute aus Unzufriedenheit selbst feuern, gibt es ein
Problem. Irgendetwas muss schieflaufen, wenn nicht nur vereinzelte
Redakteur:innen, sondern ganze Redaktionen zurücktreten. Genau das
passiert seit einigen Jahren immer häufiger in der Welt der
wissenschaftlichen Fachmagazine. Seit 2023 kam es zu insgesamt [1][22
redaktionellen Massenrücktritten] bei renommierten Fachzeitschriften.
Einige davon haben Briefe veröffentlicht, in denen sie die Rücktrittsgründe
benennen. Sie lesen sich wie eine Anklage gegen ein zunehmend
gewinnorientiertes System mit immer weniger Mitbestimmungsmöglichkeiten.
Und wie ein Hilfeschrei, die Wissenschaft, so wie sie sie kennen,
aufrechtzuerhalten: Qualität statt Quantität, Peer-Review statt
vorsortierende Algorithmen, kritische Theorie statt Managementpapiere.
In welchem Land die Verlage ihren Hauptsitz haben, ist für die
Wissenschaftler:innen im Grunde egal. Sie versuchen, ihre Forschung
dort zu platzieren, wo sie die größte Reichweite hat. Das sind
englischsprachige Zeitschriften mit Sitz in Westeuropa und Nordamerika.
Wenn in diesem System etwas nicht geradeläuft, betrifft das alle
Forscher:innen, egal ob aus Deutschland, Indien oder den USA.
Die taz hat sich drei Fälle angesehen: die Rücktritte bei Critical Public
Health, einer Zeitschrift des Verlags Taylor & Francis, bei der
Fachzeitschrift Gender, Work and Organization des Verlags Wiley und beim
Journal of Human Evolution des Verlags Elsevier. In allen Fällen haben die
ehemaligen Redakteur:innen einen Abschiedsbrief mit den
Rücktrittsgründen veröffentlicht. In zwei Fällen hat die taz die Verlage um
eine Stellungnahme gebeten, in einem Fall gibt es bereits eine öffentliche
Stellungnahme des Verlags zu den Vorwürfen. Die taz sprach außerdem mit
Ivan Oransky von der Nichtregierungsorganisation Retraction Watch, einer
Datenbank für den Rückzug wissenschaftlicher Artikel und Kündigungen
beziehungsweise Rücktritten bei Fachzeitschriften.
„Die Häufigkeit scheint in den letzten Jahren zugenommen zu haben“, heißt
es zu den Massenrücktritten auf der Webseite von Retraction Watch. Mit
Sicherheit könne man das aber nicht sagen, da die historische Rate
unbekannt sei, gibt Ivan Oransky zu bedenken, der die Organisation
ehrenamtlich unterstützt.
Im ersten der drei untersuchten Fälle traten die Mitherausgeberinnen und
die meisten Mitglieder des Redaktionsausschusses der Zeitschrift Critical
Public Health im Sommer 2023 zurück. „Während es bei einer kritisch
orientierten wissenschaftlichen Zeitschrift, die von einem kommerziellen
Verlag vermarktet wird, unvermeidlich Spannungen gibt, ist es in den
letzten Jahren immer schwieriger geworden, diese beiden unterschiedlichen
Versionen der Zeitschrift zusammenzuhalten“, erklärten die
Mitherausgeberinnen Judith Green und Lindsay McLaren in einer
Pressemitteilung zu ihrem Rücktritt.
Die Redaktion beklagt den zunehmenden Einfluss des Verlags auf
redaktionelle Entscheidungen wie den Artikelumfang und die
Vereinheitlichung der Vorproduktion über eine Einreichungsplattform, die
der Redaktion die Möglichkeit nehme, „kollegial und maßgeschneidert“ auf
Autor:innen und Gutachter:innen einzugehen. Der Verlag Taylor &
Francis hat auf Anfrage der taz zu den Vorwürfen nicht geantwortet. Der NGO
Retraction Watch teilte der Verlag im Juli 2023 mit, man sei enttäuscht
über den Rücktritt, freue sich aber auf ein neues Redaktionsteam.
## Die Verlage verkaufen den Universitäten ihre eigene Arbeit
Die Redaktion einer wissenschaftlichen Zeitschrift entscheidet, welche der
eingereichten Artikel veröffentlicht werden. Dazu sucht sie für jedes Paper
geeignete Gutachter:innen, die ihre Arbeit unentgeltlich verrichten; die
Forschung der Kolleg:innen zu prüfen, gilt unter Akademiker:innen
als Ehrensache. Bei Journalen mit hohen Einreichungs- und niedrigen
Annahmequoten entscheidet die Redaktion, ob der aufwendige
Peer-Review-Prozess für ein eingereichtes Paper überhaupt in Gang gesetzt
wird. Am Ende entscheiden die Redakteur:innen auf Basis des Gutachtens
und ihrer eigenen Meinung, ob ein Beitrag veröffentlicht wird. Sie
beeinflussen also maßgeblich, welche Themen und Artikel den langen Weg bis
zur Publikation schaffen und welche auf der Strecke bleiben.
Der wirtschaftliche Überbau dieses Systems sind die Verlage, die meisten
von ihnen arbeiten gewinnorientiert. Ihr Geschäftssystem basiert darauf,
Forschungsarbeiten, die oft bereits durch die Universitätsgehälter der
Wissenschaftler:innen bezahlt sind, zu drucken und für viel Geld an
die Universitätsbibliotheken zurückzuverkaufen.
Auch sogenannte Open-Access-Journale verlangen eine Publikationsgsgebühr –
die von den Forschenden und ihren Institutionen selbst zu entrichten ist –
sie beträgt meistens viele Tausend Euro. Die Wissenschaft macht mit, weil
Publikationen in den renommiertesten Fachmagazinen als Karriereöffner
beziehungsweise als Notwendigkeit für eine erfolgreiche wissenschaftliche
Karriere gelten.
Ein weiterer Massenrücktritt erfolgte bei dem Fachmagazin Gender, Work and
Organization, herausgegeben von Wiley, im Frühjahr 2024. Den offenen Brief
zum Rücktritt unterzeichneten 344 Personen, die als Mitherausgeber:innen,
Mitglieder des Beirats, Mitglieder des Redaktionsbeirats,
Gutachter:innen und Autor:innen für das Journal gearbeitet hatten.
Die Unterzeichnenden werfen dem Verlag vor, die inhaltliche Ausrichtung der
Fachzeitschrift gegen den Willen der Redaktion verändert zu haben. In dem
Brief heißt es: „Es ist offensichtlich, dass die Zeitschrift jetzt an
umfangreichen, qualitativ minderwertigen und am Mainstream orientierten
Managementpapieren interessiert ist“, und „wir haben kein Vertrauen, dass
die derzeitige Leitung mit den Werten unserer integrativen, feministischen
Gemeinschaft übereinstimmt“. Der Verlag hat auf Anfrage der taz zu den
Vorwürfen nicht reagiert.
[2][Kritik an der Art und Weise des Massenrücktritts] kommt aus der
Wissenschaft. In einem Paper kritisieren zwei Forscher:innen, dass der
Massenrücktritt von Gender, Work and Organization die negativen
Auswirkungen auf Nachwuchswissenschaftler:innen und marginalisierte
Wissenschaftler:innen nicht berücksichtigt hat.
Allerdings suchten die Autor:innen nach eigenen Angaben absichtlich nach
Wissenschaftler:innen, die dem Rücktritt kritisch gegenüberstanden. Ihr
Ziel war es, diese Gruppe besser zu verstehen, und nicht, eine ausgewogene
Studie zum Rücktritt durchzuführen.
## Künstliche Intelligenz ist nicht das grundsätzliche Problem
Im dritten Fall traten alle Mitglieder des Redaktionsausschusses des
Journal of Human Evolution, eines Fachmagazins des Verlags Elsevier, Ende
2024 zurück. Im Herbst 2023 führte Elsevier nach Angaben der ehemaligen
Redaktion den Einsatz von [3][künstlicher Intelligenz während der
Produktion] ein, ohne die Redakteur:innen zu konsultieren. Die
Änderungen führten dazu, dass akzeptierte Versionen von Beiträgen
umgestoßen würden, selbst wenn sie von den bearbeitenden
Redakteur:innen bereits korrekt formatiert wurden, hieß es im
Rücktrittsschreiben.
Elsevier fiel schon früher durch hohe Kosten negativ auf. 2012
unterschrieben 12.500 Wissenschaftler:innen einen Eid mit dem Titel
„The Cost of Knowledge“, in dem sie gelobten, keine Artikel mehr bei
Elsevier zu veröffentlichen, auch die reiche Harvard University rief ihre
Wissenschaftler:innen im selben Jahr dazu auf, nicht mehr in Elsevier
zu veröffentlichen, weil die Bibliothek die Gebühren für die Magazine nicht
mehr bezahlen könne.
Auch wenn der Einsatz von KI im Journal of Human Evolution für Aufsehen
gesorgt hatte, sieht Oransky von Retraction Watch die künstliche
Intelligenz nicht als das grundlegende Problem der Branche. Papiermühlen
seien älter als KI und das interne Motto der Wissenschaft „publish or
perish“, also „veröffentliche oder verrecke“, auch. KI lenke lediglich
davon ab, dass das Verlagswesen der Fachzeitschriften bestimmten
Grundprinzipien der Wissenschaft widerspreche. „Akademische Freiheit und
Qualitätskontrolle sind mit dem Geschäftsmodell nicht vereinbar“, sagt
Oransky.
Korrekturhinweis 19.03.25: In einer früheren Version war von
„Einreichungsgebühr“ die Rede. Richtig ist, das zur Veröffentlichung bei
vielen Open-Access Journalen eine „Publikationsgebühr“ aus eigenen oder
Institutionsmitteln zu entrichten ist.
17 Mar 2025
## LINKS
[1] https://retractionwatch.com/the-retraction-watch-mass-resignations-list/
[2] https://www.google.com/url?q=https%3A%2F%2Fwww.emerald.com%2Finsight%2Fcont…
[3] /Druck-in-der-Forschung/!5980180
## AUTOREN
Enno Schöningh
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