# taz.de -- Historiker über Forschungsbehörden im NS: „Handlungsspielräume… | |
> Carsten Reinhardt hat die NS-Geschichte staatlicher Forschungsbehörden | |
> untersucht. Ohne sie wäre das „Dritte Reich“ so nicht möglich gewesen, | |
> sagt er. | |
Bild: Hermann Göring (mit Spazierstock) besichtigt als Bevollmächtigter für … | |
taz: Herr Reinhardt, in den vergangenen Jahren haben Sie die | |
NS-Vergangenheit der Vorgänger von drei Forschungsbehörden durchleuchtet, | |
die heute dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) | |
unterstehen. Lange war solche Forschung in deutschen Behörden nicht | |
sonderlich willkommen. Ließ man Sie gut arbeiten? | |
Carsten Reinhardt: Nachdem im Jahr 2016 die NS-Geschichte des BMWK | |
aufgearbeitet worden war, wollten sich auch die angeschlossenen | |
Forschungsbehörden ihrer Vergangenheit stellen. Inhaltlich verlief unsere | |
Forschungsarbeit völlig unabhängig, jedoch haben die Behörden uns nach | |
Kräften unterstützt. Wir hatten Zugang zu sämtlichen staatlichen und | |
fachlichen Archiven. | |
taz: Eine Ihrer zentralen Fragen war, wie sich die Vorgänger der | |
Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM), der Bundesanstalt | |
für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) und der Physikalisch-Technischen | |
Bundesanstalt (PTB) in das politische System des Nationalsozialismus | |
hineinbewegt haben. Wie lief das ab? | |
Reinhardt: Das nationalsozialistische Regime hat damals direkt nach der | |
Machtübergabe sehr radikale Gesetze erlassen. Zum Beispiel das „[1][Gesetz | |
zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums]“ vom April 1933. Das | |
hat allen staatlichen Einrichtungen auferlegt, jüdische Mitarbeitende und | |
politisch Oppositionelle zu entlassen und zielte auf deren Vertreibung. | |
Die von uns erforschten Behörden haben dieses und weitere NS-Gesetze in | |
fast allen Fällen zügig und umfassend umgesetzt. Es gab Verzögerungen, aber | |
das waren sehr wenige. Vorhandene Handlungsspielräume wurden nur sehr | |
eingeschränkt genutzt. Gleichzeitig, und da ähneln die Forschungsbehörden | |
anderen staatlichen Einrichtungen, sind zu Beginn etwa 30 bis 40 Prozent | |
und in der späteren Kriegsphase deutlich über 50 Prozent der Beamten in die | |
NSDAP eingetreten. [2][Das neue politische System wurde größtenteils | |
begrüßt.] | |
taz: Weshalb? | |
Reinhardt: Ein Großteil der Beamtenschaft und der höheren Angestellten | |
dieser Einrichtungen war rechtsnational eingestellt und konnte sich mit | |
vielen Zielen des nationalsozialistischen Staates identifizieren. Die | |
Bestimmungen des Versailler Vertrages, also den Verlust von Gebieten des | |
Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, empfanden viele der Beamten als | |
ungerecht. Sie gingen davon aus, dass man einen Krieg führen musste, um das | |
Deutsche Reich wieder in die Machtstellung zu bringen, die es vor dem | |
Ersten Weltkrieg hatte. | |
Hinzu kam bei vielen das Karrierestreben. Für Wissenschaftler, Techniker | |
und Ingenieure, darunter waren wenige Frauen, entstanden in der | |
Kriegswirtschaft viele interessante Betätigungsfelder. Zudem waren die | |
Ressourcen vorhanden: Die Etats der Forschungsbehörden sind in dieser Zeit | |
sehr stark gestiegen. Das Personal hat sich mehr als verdoppelt. | |
taz: Heute forscht die BGR beispielsweise daran, [3][wie natürliche | |
Ressourcen nachhaltig genutzt werden können]. Woran haben die | |
Forschungsbehörden im Nationalsozialismus gearbeitet? | |
Reinhardt: Eines der Hauptziele war Autarkie. Die zentrale Lehre aus dem | |
Ersten Weltkrieg war, dass die Alliierten das Deutsche Reich durch eine | |
Seeblockade von Einfuhren abschneiden konnten. Um den Krieg erfolgreich | |
führen zu können, sollte das Deutsche Reich also unabhängig von | |
kriegswichtigen Importen werden. | |
Die Forschungsbehörden haben Rohstoffe wie Metalle und Mineralien aber auch | |
Erdöl und Kohle im Deutschen Reich ausfindig und verfügbar gemacht. Und sie | |
haben sich bemüht, für viele importierte Stoffe Ersatzstoffe zu finden. | |
Diese Forschungsergebnisse haben eine neue Materialwirtschaft möglich | |
gemacht und sie waren ein wesentlicher Baustein für die Rüstungspolitik. | |
Ohne die Arbeit der Forschungsbehörden hätte das NS-Regime seinen | |
Vernichtungskrieg nicht so lange führen können. | |
taz: Gab es keinen Widerstand? | |
Reinhardt: Es gab einzelne Fälle von Spionage. Aber das waren Ausnahmen, | |
die durch die Gestapo und die Amtsleitung mit schlimmsten Konsequenzen für | |
die Beteiligten verfolgt wurden. | |
taz: Ist die staatliche Forschung davor gefeit, sich wieder den falschen | |
Zielen zu verschreiben? Aktuell erleben wir eine Renaissance | |
nationalistischer Denkweisen und eine massive Welle der Aufrüstung. Auch | |
die Unabhängigkeit von Rohstoffimporten ist ein Thema. | |
Reinhardt: Eine gesicherte Rohstoff- und Energieversorgung ist von | |
zentraler Bedeutung für jeden Wirtschaftsstandort, auch für einen rein | |
zivilen. In einer Welt, in der Ressourcen als Druckmittel benutzt werden, | |
ist eine gewisse Unabhängigkeit deshalb unerlässlich. Aber wir sollten | |
dafür sorgen, dass prosperierende, ökonomische und ökologisch nachhaltige | |
Wirtschaftsformen existieren. Nur so lässt sich langfristig auch eine | |
funktionierende Gesellschaft sichern. | |
Dennoch müssen wir uns bewusst sein, dass Forschung immer auch politisch | |
ist. Autarkie kann in Kriegsvorbereitung münden, muss sie aber nicht. Mit | |
diesem Wissen gilt es verantwortlich zu handeln. Jede*r von uns hat eine | |
individuelle Verantwortung und einen moralischen Kompass. Es ist wichtig, | |
beide in Einklang zu bringen. Wir sind nicht dazu verdammt, die Geschichte | |
zu wiederholen. | |
11 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Bachmann | |
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