| # taz.de -- Philippa Sigl-Glöckner: Ohne Bremse Richtung Bundestag | |
| > Kann man mit dem Thema Schuldenbremse einen Wahlkampf gewinnen? In | |
| > München versucht die Sozialdemokratin Philippa Sigl-Glöckner genau das. | |
| Bild: Die Ökonomin Philippa Sigl-Glöckner bei einer Wahlkampf-Veranstaltung i… | |
| Ein Hauch von Hyde Park weht durch Altschwabing. Es ist Freitagabend, der | |
| Wedekindplatz wird zur Speakers’ Corner. Eine junge Frau steigt auf eine | |
| Kiste und setzt zu einer Rede an. Egal, ob die Leute, die hier | |
| vorbeischlendern, sie hören wollen oder nicht. Wedekindplatz, das ist genau | |
| zwischen Münchner Freiheit und Englischem Garten, da wo Schwabing mal | |
| Bohème war, noch früher Bauerndorf; gleich um die Ecke schrieb Thomas Mann | |
| die Buddenbrooks. Die Zeiten sind lange vorbei, doch noch immer pulsiert | |
| hier das Nachtleben – selbst an einem Winterabend bei einem Grad Celsius. | |
| In den Sträßchen rund um den Platz reihen sich die Kneipen und | |
| Kleinkunstbühnen aneinander. Es sind reichlich Menschen auf der Straße, | |
| viele haben Bierflaschen in der Hand. Ein gefundenes Fressen für die | |
| Rednerin auf der Kiste. | |
| Denn sie hat eine Botschaft. Und eine lange Papierrolle in der Hand, die | |
| sie durch die Luft schwenkt. Ein paar Dutzend aneinandergeklebte | |
| Din-A4-Bögen sind es, die Gesetzestexte und Formeln, die zur Berechnung der | |
| zulässigen Neuverschuldung notwendig sind. Alles recht unverständlich und | |
| willkürlich, wie die Frau versichert. Während sie spricht, wird sie von | |
| einem roten und einem weißen Scheinwerfer angeleuchtet. | |
| Philippa Sigl-Glöckner heißt die Frau, aber man könnte sie auch Mrs. | |
| [1][Schuldenbremse nennen, denn die ist ihr großes Thema. Reformieren] will | |
| sie sie, wenn nicht gar abschaffen. Jüngst hat sie sogar ein Buch darüber | |
| geschrieben, „Gutes Geld“ heißt es. Aber mit der Theorie allein will sich | |
| Sigl-Glöckner nicht mehr aufhalten. Deshalb will sie jetzt für die SPD in | |
| den Bundestag. Und dafür steigt die 34-Jährige auch mal bei frostigen | |
| Temperaturen auf eine Kiste. | |
| Ein Menschenträubchen hat sich zwischen den vier kahlen Bäumen des Platzes | |
| um die Frau versammelt. Jemand teilt Postkarten aus. „Rosen sind rot, Liebe | |
| macht blind“, steht darauf, und kleiner gedruckt: „… die Karriere für | |
| Frauen steht und fällt mit dem Kind.“ Es ist die Einladung zu einer | |
| Diskussionsveranstaltung mit der Kandidatin. Als Sigl-Glöckner nach ein | |
| paar Minuten von ihrer Kiste steigt, umringen sie vier, fünf der Zuhörer, | |
| man unterhält sich – nein, nicht über Migration, nicht über Trump oder die | |
| Ukraine, sondern tatsächlich über – Geld. Über Staatsschulden. | |
| ## Sie will jetzt für die SPD in den Bundestag | |
| Das sei ja alles schön und gut und durchaus plausibel, was sie da über die | |
| Schuldenbremse erzählt habe, sagt einer, aber seine Sorge sei, dass die | |
| Schulden, wenn man sie denn ungebremst aufnehme dürfte, für Falsches | |
| ausgegeben würden. [2][Sigl-Glöckner erwidert, es könne ja durchaus | |
| Vorgaben] geben, für was das aufgenommene Geld ausgegeben werden dürfe. Für | |
| welche Investitionen Sigl-Glöckner die zusätzlichen Milliarden denn gern | |
| ausgeben würde, will ein anderer wissen. Bildung nennt Sigl-Glöckner, aber | |
| auch Verkehr, Dekarbonisierung und Verteidigung. Aus der Handtasche einer | |
| Zuhörerin schaut ein verschlafener Zwergpudel, farblich perfekt abgestimmt | |
| auf den hellbraunen Mantel der Frau. Ein Passant ruft: „Du bist nicht von | |
| der AfD?“ Sigl-Glöckner verneint [3][[][4][na, zum Glück d. säzz.][5][]]. | |
| „Schade“, murmelt der junge Mann und zieht ab. | |
| Vielleicht wäre ja alles anders gekommen, wenn ihr Vater damals im Urlaub | |
| nicht dieses Buch von Joseph E. Stiglitz, dem amerikanischen Ökonom und | |
| Nobelpreisträger, dabei gehabt hätte. „Die Schatten der Globalisierung“ | |
| heißt es. Philippa Sigl-Glöckner war noch Schülerin, hatte selbst nichts zu | |
| lesen dabei. Mehr aus Langeweile griff sie zu dem Buch – und war angefixt. | |
| „Das war ein bisschen so, als ob jemand den Vorhang wegzieht. Plötzlich | |
| fängst du an, Dinge zu verstehen über die Geldströme in der Welt – Dinge, | |
| über die du bislang nichts wusstest.“ | |
| Damals war sie vielleicht 14. Ein Mädchen aus einer wohlhabenden Münchner | |
| Patchwork-Familie, aufgewachsen im noblen Stadtteil Bogenhausen. Die | |
| Familie väterlicherseits hatte einen angesagten Pelzladen; in dem Haus in | |
| der Maxvorstadt, wo der Großvater noch seine Werkstatt hatte, lebt | |
| Sigl-Glöckner heute mit ihrer Schwester. | |
| Vom humanistischen Gymnasium in München wenig angetan, wechselte sie gegen | |
| Ende ihrer Schulzeit an ein englisches Internat. In Oxford studierte sie | |
| Wirtschaft, Politik und Philosophie, danach arbeitete sie in Washington für | |
| die Weltbank, beriet im Auftrag der Stiftung von Tony Blair das | |
| Finanzministerium in Liberia und machte in London noch einen Master in | |
| Informatik. Von 2018 bis 2020 arbeitete sie beim Bundesfinanzministerium, | |
| zuletzt als Referentin von Staatssekretär Wolfgang Schmidt, der | |
| mittlerweile Kanzleramtsminister ist. Und ihr Lebensgefährte. | |
| ## 2020 gründete sie das Dezernat Zukunft | |
| Es gibt Sozialdemokraten, die haben typischere Lebensläufe. Ein | |
| Parteigewächs ist Sigl-Glöckner eh nicht. In Berlin ist sie bei den Jusos | |
| eingetreten, hat gefremdelt. Doch eine andere Partei käme dann doch nie für | |
| sie infrage. Weil es ihr, so sagt sie, um die Menschen geht. | |
| 2020 gründete sie das Dezernat Zukunft, einen Thinktank, der „Geld-, | |
| Finanz-, und Wirtschaftspolitik verständlich, kohärent und relevant | |
| erklären und neu denken will“. Aber irgendwann war ihr die theoretische | |
| Welt einer Wissenschaftlerin, die Wirkmacht einer Beraterin im | |
| Finanzministerium zu wenig. „Dann müssen Sie sich überlegen: Wo steckt der | |
| Fehler im System? Und da war für mich klar: Eigentlich gibt es niemanden in | |
| der Politik, der sich wirklich groß für Finanzpolitik interessiert, das ist | |
| immer so ein Beiwerk. Und deshalb habe ich gesagt: Okay, Politik ist das | |
| Problem, da muss ich rein.“ | |
| Es ist am Morgen vor ihrem Auftritt am Wedekindplatz, als Sigl-Glöckner das | |
| sagt. Sie sitzt, einen Cappuccino vor sich, in dem kleinen Café Berta nahe | |
| der Münchner Freiheit. Nur ein paar Tische, sie sind bis auf den letzten | |
| besetzt. Leise Jazzklänge, laute Gespräche. Sie ist mit dem E-Roller | |
| gekommen, die einzige schnelle Art, sich in ihrem Viertel fortzubewegen, | |
| wie sie sagt. | |
| Schon bei der Bundestagswahl 2021 wäre sie gern als Direktkandidatin für | |
| ihren Wahlkreis angetreten, unterlag aber intern dem damals noch | |
| amtierenden Bundestagsabgeordneten. Der schaffte allerdings nicht nur den | |
| Wiedereinzug in den Bundestag nicht mehr, sondern hatte sich [6][inzwischen | |
| ohnehin so weit von der SPD entfernt], dass er aus- und in die CSU eintrat. | |
| Der Weg für Sigl-Glöckner war frei. Das Problem: Auf der Landesliste hat | |
| die Partei der Ökonomin nur den völlig aussichtslosen Platz 36 zugestanden. | |
| Es steht und fällt also alles mit dem Wahlkreis. | |
| ## Du hast keine Chance, aber nutze sie! | |
| 2021 gab es in Bayern genau einen Wahlkreis, der nicht an die CSU ging – | |
| und den ergatterte die Grüne Jamila Schäfer im Süden der Stadt. „Ja, mei�… | |
| sagt Sigl-Glöckner. Ein bisschen Achternbusch darf’s dann schon sein: Du | |
| hast keine Chance, aber nutze sie! Und andererseits: Wo, wenn nicht hier, | |
| sollte die SPD eine Chance haben? Schließlich machen einen Großteil des | |
| Wahlkreises München-Nord die Stadtviertel Moosach, Hasenbergl, | |
| Milbertshofen aus, Gegenden, in denen überwiegend Menschen mit mittleren | |
| und kleineren Einkommen leben, der Migrantenanteil besonders hoch ist. Dazu | |
| kommt: Auch die Mitbewerber von CSU und Grünen sind neu im Rennen, es gibt | |
| keinen Amtsbonus. Beim letzten Mal lagen zwischen Platz 1 und 3 keine 4 | |
| Prozentpunkte. | |
| Und es ist ja nicht so, dass die SPD den Wahlkreis nicht schon geholt | |
| hätte. Hans-Jochen Vogel etwa siegte hier 1976 und 1980, Axel Berg 1998, | |
| 2002 und 2005. Gewiss, andere Zeiten. Und doch sind beide für Sigl-Glöckner | |
| auch Vorbilder – und sie sieht eine Gemeinsamkeit: „Das waren Politiker, | |
| die klare Projekte hatten: Axel Berg die Energiewende, Hans-Jochen Vogel | |
| die Bodenpolitik.“ Und genau das, ein klares Projekt, hat Sigl-Glöckner | |
| schließlich auch. Draußen hängen Plakate. „Weil es um unser Geld geht“, | |
| steht darauf. | |
| Also: Wie war das noch mal mit der Schuldenbremse? Tags zuvor hat sie es | |
| bei einer Diskussionsrunde im Studentenwohnheim Geschwister Scholl mal | |
| wieder erklärt. Natürlich solle man immer sorgfältig mit Geld umgehen. Nur: | |
| Der sorgfältige Umgang mit Geld und Schulden machen, das seien keine | |
| Gegensätze – entgegen dem verbreiteten Mythos. Das Problem mit der | |
| Schuldenbremse sei beispielsweise, dass sie nicht unterscheide, wofür | |
| Schulden aufgenommen würden. Aktuell zahle der Staat nur niedrige Zinsen | |
| auf seine Kredite. Er stelle sich daher selbst ein Bein, wenn er das nicht | |
| für dringende Zukunftsinvestitionen nutze. | |
| ## Eine Begrenzung von Kreditaufnahmen sei in Ordnung | |
| Es ist ein kleiner Saal im Erdgeschoss des Wohnheims, aber voll besetzt. | |
| Viele sind in Badeschlappen oder Hausschuhen gekommen und hören | |
| Sigl-Glöckner konzentriert zu. Eine Schuldenbremse, die im Grundgesetz | |
| verankert sei, sagt diese, müsse schon auch auf lange Zeit angelegt sein. | |
| Wie solle das mit einer so beliebigen Zahl gehen? „Da wird etwas | |
| depolitisiert, was hoch politisch ist.“ Politiker müssten ihr Handeln dann | |
| nicht mehr rechtfertigen. | |
| Eine Begrenzung von Kreditaufnahmen sei ja in Ordnung, sie müsse aber immer | |
| wieder angepasst werden. So könnte man sich auf europäischer Ebene alle | |
| vier Jahre zusammensetzen und einen sinnvollen Rahmen für die nächsten | |
| Jahre festlegen. | |
| Und dann liest sie noch eine Passage aus ihrem Buch vor, in der sie | |
| beschreibt, wie die Föderalismuskommission an einem Februarabend 2009 in | |
| der Julius-Leber-Kaserne in Berlin-Wedding um die Schuldenbremse ringt – | |
| ein Hin und Her, bei dem sich im Wesentlichen der damalige bayerische | |
| Ministerpräsident Horst Seehofer durchsetzt. Am Ende steht eine maximale | |
| Schuldenaufnahme von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Grundgesetz. | |
| „Also“, sagt Sigl-Glöckner, „die 0,35 sind ein völlig zufälliges | |
| Verhandlungsergebnis zwischen Bund und Ländern.“ | |
| Natürlich weiß sie, dass sie als einfache Abgeordnete an den 0,35 Prozent | |
| kaum etwas wird ändern können. Müsste sie da nicht eigentlich | |
| Finanzministerin werden? Sicher, sagt Philippa Sigl-Glöckner, das wäre | |
| schon ein Traumjob. | |
| 19 Feb 2025 | |
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| Dominik Baur | |
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