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# taz.de -- Wahlkampf der Ankündigungen: Warum nichts passiert, obwohl dauernd…
> Zentrale Fragen werden in diesem Wahlkampf nicht gestellt. Warum werden
> so viele drängende Themen gar nicht erst erörtert?
Bild: Es muss was geschehen, nur wer macht wirklich was?
Es muss etwas geschehen“, das ist der Satz, der gegenwärtig wohl am
häufigsten zu hören ist: bei Interviews auf der Straße, in Talkshows und
bei Politikerreden. Meist reicht es, einige Städtenamen aufzuzählen, um
das Statement zu begründen.
Mannheim, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg und nun auch noch München … Es
muss etwas geschehen! Und dann folgt der Ruf nach neuen Gesetzen. Es ist
das immer gleiche Muster: Bei jedem dieser fürchterlichen Terroranschläge
überbieten sich Politiker darin, neue, schärfere Regeln zu fordern. Und
wenn auch diese Verschärfungen wieder ihre versprochene Wirkung verfehlen,
sobald sie auf die Realität stoßen, die so einfach nicht ist, wie es der
Ruf nach sofortigem Handeln suggeriert, dann werden beim nächsten Schock,
der die Menschen in diesem Lande aufrührt, eben [1][noch schärfere Gesetze
gefordert] … und so fort: „Es muss etwas geschehen!“
Zwischen der Tat, für die der Ortsname steht, und den Gesetzen aber klafft
eine riesige Lücke: eine Lücke des Versagens bei der Nutzung bestehender
Regelungen und der Organisation der Situation von Asylsuchenden zwischen
Antrag und Entscheidung; ein Mangel, sich die Lage vieler Menschen
vorzustellen, die in ihrer Heimat ihres Lebens oder ihrer Existenz nicht
sicher sind; ein Zuwenig besonnener Integrationspolitik und mangelnde
Achtung vor den Anstrengungen vieler Bürger, die sich für das Auskommen von
Geflüchteten engagieren, und vieler Beamter, die trotz Überforderung bemüht
sind, das ihre zur Bewältigung der Lage zu tun.
Und so wirkt das Wort Migration – im Kurzschluss zwischen Asylbewerber und
Tat – derzeit wie ein Tsunami, der alle anderen Probleme wegspült, bei
denen ebenso etwas geschehen müsste.
## Eine lange Liste
Palisades, Los Angeles, Valencia, Ahrtal, Rio Grande do Sul, Kenia,
Somalia, Florida und, undm und … Außer den unzählig vernichteten Leben und
zerstörten Existenzen werden die weltweiten Schäden durch klimabedingte
Katastrophen allein im ersten Halbjahr 2024 auf 120 Milliarden US-Dollar
geschätzt. Es muss etwas geschehen!
Nahezu jeden Tag wird in Deutschland eine Frau getötet, davon fast 70
Prozent in den eigenen vier Wänden. Alle drei Minuten wird ein Mädchen oder
eine Frau Opfer häuslicher Gewalt … Es fehlen 14 Tausend Frauenhausplätze
in Deutschland. Es muss etwas geschehen!
Viele Schulen in Deutschland sind marode. In den Hochschulen sind etliche
Labore, Seminarräume und ganze Gebäude wegen Sanierungsbedarf geschlossen.
Es muss etwas geschehen!
Es fehlen nach Schätzung des Pestel-Instituts in Deutschland über eine
halbe Million Wohnungen, vor allem Sozialwohnungen und bezahlbare
Mietwohnungen. Es muss etwas geschehen!
## Lauter Schuldzuschreibungen
Nach Berechnung des „Instituts der deutschen Wirtschaft“ fehlen in
Deutschland mehr als 300 Tausend Kita-Plätze. Es muss etwas geschehen!
Nach [2][Auskunft des BMWK] 2014 entfallen auf die oberen 10 Prozent der
Bevölkerung 60 Prozent des Vermögens, auf die unteren 50 Prozent dagegen
2,3 Prozent, wobei die Verteilung in den vergangenen Jahren sich stetig
zugunsten der oberen 10 Prozent verschoben hat. Es muss etwas geschehen!
Fast jeder sechste Arbeitnehmer in Deutschland erhält einen Niedriglohn
(derzeit weniger als 13,79 pro Stunde), das sind 16 Prozent der
Beschäftigten. Im EU-Vergleich steht Deutschland beim Anteil des
Niedriglohnsektors an sechster Stelle der 27 EU-Länder, hinter Lettland,
Litauen, Estland, Polen, Bulgarien. Gleichzeitig heißt es, der
Produktionsstandort Deutschland sei nicht wettbewerbsfähig. Was ist da
geschehen?
2024 stieg die Zahl der Insolvenzen in Deutschland um fast 17 Prozent und
das Bruttoinlandsprodukt sank um 0,2 Prozent. Es droht ein enormer
Stellenabbau, gleichzeitig stiegen die Gewinnausschüttungen der
DAX-Konzerne 2023 und 2014 auf Rekordniveau. Nach einer Studie der
Hans-Böckler-Stiftung ist die Inflation nicht steigenden Löhnen geschuldet,
sondern den steigenden Gewinnmargen. Trotzdem klagen BDI, Gesamtmetall und
andere Wirtschaftsverbände über ein Investitionstief in Deutschland und
fordern: „Die Politik muss handeln, und zwar schnell“ (BDI). Die DSW kommt
auf Grundlage einer breit angelegten Datenanalyse zum Ergebnis, die Krise
sei durch die Unternehmen selbst verschuldet. Sie hätten die letzten 20
Jahre verschlafen. Wo muss da etwas geschehen!
„Untersuchungen zeigen, dass für unseren Wohlstandskonsum pro Deutschen
durchschnittlich 50 Menschen in den Entwicklungsländern unter
[3][sklavenähnlichen Bedingungen] arbeiten müssen“, so der ehemalige
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd
Müller (CSU), in einem Interview 2019, der forderte: „Das muss ein Ende
haben.“
Natürlich ist diese Liste, die im Schatten des erhitzten Streits um die
Migration steht, keineswegs vollständig. Politik im substanziellen Sinne
beginnt allerdings erst dort, wo der Zusammenhang all dieser Probleme
erörtert wird. Der ist aber im aktuellen Wahlkampf der Überbietungen und
gegenseitigen Schuldzuschreibungen vollends abhandengekommen.
21 Feb 2025
## LINKS
[1] /Konservative-Anti-Migrations-Plaene/!6063398
[2] https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Schlaglichter-der-Wirtschaftspolitik/2024/…
[3] https://www.bmz.de/de/aktuelles/reden-archiv/minister-mueller/eine-welt-kei…
## AUTOREN
Sigrid Weigel
## TAGS
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Migration
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Feminismus
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Schuldenbremse
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