# taz.de -- Film „Die Eine tanzt, die Andere nicht“: Ein kluger Blick auf d… | |
> Regisseurin Emilie Girardin erzählt vom Leben junger migrantischer Frauen | |
> in der Hamburger Kulturszene und ihrem Ringen um ein queeres | |
> Lebensmodell. | |
Bild: Die Freundinnenschaft steht obenan: Filmszene mit Tirza (Tirza Ben Zvi, l… | |
Ein lesbisches Paar wünscht sich ein Kind – aber der Freund, dessen Samen | |
die beiden dafür bräuchten, weigert sich, ihn zur Verfügung zu stellen. | |
Gleichzeitig wird eine andere Freundin ungewollt schwanger und will | |
abtreiben. Könnte sie nicht das Wunschkind der beiden austragen? Ein Stoff, | |
aus dem ein Melodrama gebastelt wird, es muss Seifenopern geben, in denen | |
so ein Szenario durchgespielt wurde. Und wie intensiv hätte etwa ein | |
[1][Pedro Almodóvar] diese Geschichte weitergesponnen bis zur letzten | |
tränenreichen Konsequenz? | |
Nun ist das Umrissene zwar der Haupthandlungsstrang von Emilie Girardins | |
„Die Eine tanzt, die Andere nicht“. Aber die schweizerisch-polnische | |
Wahlhamburgerin hat kein Interesse an einem queeren Rührstück. Stattdessen | |
ließ sie sich von [2][Agnés Varda] inspirieren, deren feministischer | |
Klassiker „Die eine singt, die andere nicht“ von 1977 Pate stand, und das | |
nicht nur vom Titel her: Auch da ging es um Zeugung, Abtreibung und die | |
Rechte von Frauen – und ein ähnlich kluger, liebevoller Blick auf ihre | |
Protagonistinnen verbindet die Filmemacherinnen. | |
Girardin verortet ihren Film im Milieu junger KünstlerInnen, zumeist aus | |
anderen Ländern nach Hamburg gekommen, wo sie sich nun durchbeißen in | |
prekären, sogenannt freien Verhältnissen. | |
Die Jüdin Tirza zum Beispiel ist Tänzerin, und in der ersten Szene des | |
Films sehen wir sie beim Vortanzen für ein Engagement bei einer modernen | |
Ballettgruppe. Wenn sie dann fast den ganzen Film über nicht weiß, ob man | |
sie ablehnen wird, hallen darin nicht zuletzt Girardins eigene | |
Lebensumstände wider; auch sie muss immer wieder um die Finanzierung ihrer | |
Projekte bangen. Von „Autofiktion“ spricht sie mit Blick auf ihre Methode, | |
aber es geht da um mehr, als sich für die Kunst an der eigenen Biografie zu | |
bedienen. | |
Auch auf anderer Ebene werden hier Realität und Erzählung, Dokumentation | |
und Spiel miteinander vermengt. Die ProtagonistInnen werden fast alle | |
von professionellen SchauspielerInnen dargestellt, lediglich eine der | |
Mütter verkörpert Girardins eigene Mutter. Dann tragen die Filmfiguren aber | |
die Namen der Darstellenden, Tirza etwa wird gespielt von der Israelin | |
Tirza Ben Zvi, einer professionellen Tänzerin, die auch schon auf | |
Theaterbühnen etwa in Göttingen und Hamburg zu sehen war. | |
In langen, improvisierten Proben haben die Spielenden sich die Charaktere | |
selbst erarbeitet. Wenn etwa Ben Zvi bei den Proben einwandte, so wie | |
vorgeschlagen würde sie doch nie agieren, dann wurde die Szene in ihrem | |
Sinne geändert: Bei dieser Arbeitsweise ist nicht die Regisseurin die | |
letzte Autorität, sondern die Darstellerin. | |
Anders als 2020 für ihren [3][Film „The Last to Leave Are The Cranes“] lie… | |
Girardin ihre Darstellerinnen diesmal nicht auch bei den Dreharbeiten | |
selbst improvisieren. Sondern sie arbeitete lange an einem Drehbuch, das | |
die zuvor improvisierten Dialoge verdichtete – so sehr, dass „Die Eine | |
tanzt, die Andere nicht“ binnen 78 Minuten erstaunlich viele Themen | |
behandelt, ohne ein überladener Thesenfilm zu sein. | |
Eine gleichermaßen sachliche wie zugleich atmosphärisch reiche Milieustudie | |
ist ihr gelungen: So müssen sich die jungen Frauen mit der deutschen | |
Bürokratie herumschlagen, und Girardin zeigt, welche Beratungsgespräche | |
Tirza führen und welche Formulare sie ausfüllen muss, um [4][legal | |
abtreiben zu dürfen]. | |
Wenn Dani (Daniela Castillo Toro) versucht, den Wunsch nach einem | |
gemeinsamen Kind mit ihrer Partnerin Reta (Anngret Schultze) durchzusetzen, | |
dann passiert das nicht in Form hoch emotionaler Streitereien, sondern in | |
Gesprächen. So wird unaufgeregt und authentisch von queeren | |
Familienmodellen und reproduktiver Gerechtigkeit erzählt, und bei aller | |
Leidenschaft opfern Tirza und Dani nicht ihre Freundinnenschaft den | |
unterschiedlichen Lebensentwürfen. | |
Nah an der Realität der jungen Frauen ist auch, wie sie kommunizieren: So | |
ist kaum Dialog auf Deutsch zu hören, die Protagonistinnen reden entweder | |
in ihren Muttersprachen Spanisch, Hebräisch und Polnisch miteinander oder | |
auf Englisch, was zu interessanten Unschärfen führt. Vieles an | |
Kommunikation geschieht zudem über Internet, Sprachnachrichten oder | |
Handytelefonate, denn diese Frauen können mit den Familien und | |
FreundInnen daheim nur über Medien in Kontakt bleiben. | |
Schließlich ist dies auch ein Film über Hamburg, das Girard mit statischen | |
Totalen, Fahrten neben den Protagonistinnen auf dem Fahrrad oder auch mit | |
wackeliger Handkamera über die Schulter einer Joggerin erkundet. Dabei | |
zeigt sie nicht die typischen Stadtbilder, vielmehr Straßen, Wohnungen, | |
Studios und Büros in den wenig glamourösen Stadtteilen Hammerbrook und | |
Wilhelmsburg. Und erzählt so, wenn schon nicht geografisch, dann doch | |
metaphorisch vom Leben an den Rändern. | |
7 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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