# taz.de -- Freund*innenschaft im Alter: „Solange wir nicht sterben, reisen w… | |
> In Berlin-Wedding treffen sich seit mehr als 30 Jahren Seniorinnen in der | |
> Frauengruppe Dostluk. Das türkische Wort für Freundschaft ist ihr | |
> Fundament. | |
Bild: Hamiyet Ceylan, Gül Selcan, Sakine Aslan, Ayten Civan, Fatma Kalkan und … | |
An Gleis 10 im Berliner Bahnhof Gesundbrunnen, wo die Züge aus der Stadt | |
hinausfahren, füllt sich der Bahnsteig mit Menschen, als alle da sind: acht | |
Frauen aus der [1][Seniorinnengruppe Dostluk], die an diesem Freitagmorgen | |
im Januar ans Meer wollen. | |
Hamiyet Ceylan hat die Zugverbindung nach Stralsund ein paar Tage zuvor in | |
der Whatsapp-Gruppe geteilt: „Wer will mitkommen?“ Treffpunkt war 20 | |
Minuten vor Abfahrt, nun ist die Gruppe vollzählig: Hamiyet Ceylan, Gül | |
Selcan, Sakine Aslan, Fatma Kalkan, Veciha Koçak, Kıymet Arslan, Ayten | |
Civan und Semiha Yalçıner – die Jüngste 49, die Älteste 77. Im Regionalzug | |
parkt Sakine Aslan ihren „Mercedes“, wie sie ihren Rollator nennt, im | |
Fahrradabteil und die Frauen verteilen sich auf die freien Plätze. | |
Die Gruppe bewegt sich synchron, dies ist nicht ihre erste Reise nach | |
Stralsund, sondern mindestens die fünfte. „Dostluk“, das türkische Wort f… | |
Freundschaft, ist nicht nur der Name der Gruppe, sondern auch ihr | |
Fundament. Hier treffen sich seit mehr als 30 Jahren jeden Mittwoch | |
Seniorinnen zum Frühstück, die mehr verbindet als ihre Herkunft. „Wenn du | |
in einem fremden Land lebst, bist du eng miteinander verwoben“, sagt | |
Hamiyet Ceylan. Es ist [2][eine tiefe Verbundenheit], die entstanden ist | |
aus geteilten Lebenswegen – aber auch aus der Freude, gemeinsam die Welt zu | |
erkunden. | |
## Einmal pro Woche ein Ausflug | |
Die meisten der rund 35 Frauen, die mittwochs gemeinsam frühstücken, sind | |
als Arbeitsmigrantinnen in den sechziger und siebziger Jahren nach | |
West-Berlin gekommen und haben ihr Leben lang in Fabriken, Küchen und | |
Krankenhäusern gearbeitet. Heute sind sie in Rente und wollen etwas | |
erleben. Deshalb machen sie einmal in der Woche einen Ausflug. | |
Sie fahren so weit, wie sie an einem Tag kommen, morgens hin und abends | |
zurück: an die Ostsee oder nach Dresden auf den Weihnachtsmarkt, nach | |
Hamburg, Warnemünde oder Lutherstadt Wittenberge. Heute geht es raus aus | |
der Stralsunder Straße in Berlin Wedding – nach Stralsund. | |
„Als das [3][Deutschlandticket] kam, haben wir uns gesagt: Wer hält uns | |
auf? Wir fahren überallhin“, sagt Gül Selcan. Die 69-Jährige kam 1972 mit | |
18 Jahren nach Nassau, um beim Haushaltswarenhersteller Leifheit zu | |
arbeiten. Eigentlich wollte sie nach West-Berlin zu ihrer Schwester, doch | |
im deutschen Anwerbebüro in Istanbul sagte man zu ihr: „Das ist hier kein | |
Reisebüro.“ | |
50 Jahre später fährt Gül Selcan mit dem Zug, wohin sie will. „In Hamburg | |
waren wir am häufigsten“, sagt sie und Hamiyet Ceylan fügt hinzu: „In dem | |
Fischladen in Billstedt sind wir inzwischen Stammkundinnen.“ Manchmal | |
fahren sie nur nach Hamburg, um ein Fischbrötchen zu essen. | |
## Nach außen geschlossen, nach innen Rückhalt | |
Der Zug nach Stralsund ist an diesem Freitagmorgen voller verkniffener | |
Gesichter. Die Gruppe von acht älteren Frauen, die sich auf Türkisch | |
unterhalten und scherzen, erntet Blicke, manche neugierig, manche | |
missmutig. Hamiyet Ceylan glättet Spannungen wie ein Bettlaken. Sie wendet | |
sich auf Deutsch an ihren Sitznachbarn und spricht aus, was in der Luft | |
liegt: „Sag Bescheid, wenn dich unser Gespräch stört.“ Sein Gesicht hellt | |
sich auf, er wiegelt ab. | |
„Wir begegnen auf unseren Ausflügen auch Menschen, die Migrant*innen | |
nicht mögen“, sagt Ceylan. „Wenn es sein muss, wissen wir uns zu | |
verteidigen und verhalten uns dementsprechend.“ Später auf der Rückfahrt | |
werden die Frauen als Einzige im Abteil die drei Polizist*innen fragen, | |
warum sie zum zweiten Mal zwei Männer mit dunklen Haaren kontrollieren und | |
niemand anderen. Nach außen tritt die Gruppe geschlossen auf, nach innen | |
gibt sie Rückhalt. | |
Hamiyet Ceylan kam 1970 als Neunjährige mit ihrer Mutter nach West-Berlin, | |
wo bereits ihr Vater als Arbeiter lebte. Nach dem frühen Tod ihres Vaters | |
fing sie mit 18 Jahren an, bei Siemens zu arbeiten. Ende der achtziger | |
Jahre heiratete sie und bekam drei Kinder, Anfang der neunziger Jahre ließ | |
sie sich scheiden. Die Kinder zog sie mit ihrer Mutter groß. | |
1999 verlor sie nach 21 Jahren aufgrund von Stellenstreichungen ihre Arbeit | |
bei Siemens. „Am traurigsten war ich nicht darüber, dass ich meinen Mann | |
verloren habe, sondern meine Arbeit“, sagt sie. Vor zehn Jahren fing die | |
65-Jährige an, ehrenamtlich in der Seniorengruppe zu arbeiten, seitdem | |
organisiert sie die wöchentlichen Ausflüge und das Frühstück. „Das letzte | |
Wort habe ich“, sagt sie, „aber wenn wir zu viele sind, ist es schon | |
problematisch, weil viele schwerhörig sind.“ | |
## Alleinstehend, nicht einsam | |
Die meisten Frauen, die sich bei Dostluk treffen, sind alleinstehend. Doch | |
einsam sind sie nicht. „Wenn Männer allein sind, passen sie nirgends mehr | |
hin“, sagt Hamiyet Ceylan. „Ihr Leben kommt mir sehr begrenzt vor.“ Die | |
Frauen hingegen kommen zurecht. Einige haben sich wie Gül Selcan und Sakine | |
Aslan vor Jahren von ihrem Mann getrennt und waren danach auf sich allein | |
gestellt. | |
Andere wie Veciha Koçak sagten sich nach dem Tod ihres Mannes: „Ich bin | |
nicht gestorben, mein Leben geht weiter. Es macht mich glücklich, mit | |
meinen Freundinnen unterwegs zu sein und neue Dinge zu sehen.“ So entstand | |
ein Freundinnenkreis, der Ehen, Krankheiten, [4][Geldsorgen] und | |
Lebenskrisen überdauerte. Es gibt in der Dostluk-Gruppe Freundinnen, die | |
sich vor 50 Jahren am Fließband gegenübersaßen, gemeinsam geheiratet und | |
Kinder großgezogen haben. Andere haben hier [5][in der Rente neue | |
Freundinnen gefunde]n, mit denen sie ihren Alltag vergessen. | |
In Stralsund angekommen, schaut die Reisegruppe zuerst kurz beim Döner | |
Express in der Bahnhofshalle vorbei. Dort kennt man die Berlinerinnen | |
schon, hier trinken sie immer noch einen Tee oder zwei. Später werden sie | |
wieder hier einkehren und den ganzen Dönerimbiss mit ihrem Flachsen | |
unterhalten – auch Siegfried, der mit seinem Bier in der Ecke sitzt und ein | |
bisschen türkisch versteht, weil er schon siebenmal in Side im Urlaub war. | |
## Der Wind zieht in die Knochen | |
Aber erst geht es Richtung Innenstadt und an den Hafen, wo der Wind bis in | |
die Knochen zieht. Auch hier heften sich unverhohlene Blicke auf die | |
Gruppe, die Hamiyet Ceylan routiniert aus dem Weg räumt. „Das ist hier ein | |
ungewohnter Anblick, acht türkische Frauen, die unterwegs sind und Spaß | |
haben, oder?“, fragt sie einen Passanten, der sich beim Starren ertappt | |
fühlt und vehement verneint. | |
„Es gibt immer noch Leute, die nichts mit uns zu tun haben wollen, die | |
nicht mit uns aufgewachsen sind“, sagt Ceylan später. Seit der Wende reisen | |
sie durch den Osten und auf ihren Ausflügen, so scheint es, erkunden nicht | |
nur sie Deutschland. Sie [6][machen auch alteingesessene Deutsche mit | |
türkeistämmigen Deutschen bekannt], zu denen diese auch nach mehr als 60 | |
Jahren Einwanderung aus der Türkei wenig Berührungspunkte haben. | |
Dostluk ist eng verbunden mit dem Frauenladen, den die Arbeiterwohlfahrt | |
1983 in Wedding als Anlaufstelle für Frauen aus der Türkei und dem | |
ehemaligen Jugoslawien eröffnet hat. Die Frauen sind dort gemeinsam alt | |
geworden, manche sind krank geworden, andere gestorben. In diesem Raum ist | |
eine starke Gemeinschaft entstanden, die über Verluste von Angehörigen und | |
Gesundheit hinausträgt. „Solche Räume sind wichtig, die Frauen verlieren | |
ihre Ängste“, sagt Ayten Civan. | |
„Mit dem Älterwerden kommen Ängste“, sagt Gül Selcan. „Angst vor | |
Krankheiten, Angst vor dem Tod.“ Sakine Aslan hat Angst vor dem Alleinsein. | |
„Manchmal geht es mir nicht gut und ich bleibe zu Hause“, sagt sie. „Aber | |
dann sehe ich, dass Mittwoch ist und gehe zu Dostluk, das gibt mir Kraft.“ | |
Für sie und ihre Freundinnen ist Mittwoch ein Tag, der sie wieder | |
aufrichtet. „In unserem Alter versuchen wir, schöne Tage zu erleben“, sagt | |
die 77-jährige Semiha Yalçıner. „Es gibt uns Kraft bei unseren ganzen | |
gesundheitlichen Problemen und hilft mehr als ein Arztbesuch.“ Die Frauen | |
haben sich einen Raum geschaffen, in dem sie gemeinsam wachsen. | |
Hamiyet Ceylan hofft, dass sie noch einmal nach Kuba oder nach Kirgistan | |
reisen kann. „Als ich gearbeitet habe, hatte ich Geld, aber keine Zeit; | |
jetzt in der Rente habe ich Zeit, aber kein Geld,“ sagt sie. Gül Selcan | |
will noch einmal Nassau wiedersehen, wo sie vor mehr als 50 Jahren in der | |
Fabrik gearbeitet hat. „Solange wir nicht sterben, reisen wir weiter“, sagt | |
Sakine Aslan leichthin, und einen Moment schwebt dieser Satz noch in der | |
Luft. | |
9 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.awoberlin.de/service/dostluk-deutsch-tuerkische-seniorengruppe/ | |
[2] /Was-ist-Freundinnenschaft-lila_bunt/!6070551 | |
[3] /Zukunft-des-Deutschlandtickets/!6065113 | |
[4] /Altersarmut-von-Juedinnen-und-Juden/!6065960 | |
[5] /Lieber-Freundschaft-als-Beziehung/!5968018 | |
[6] /wortwechsel/!6070016&s=deutschlandticket&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Kimmerle | |
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