# taz.de -- Humanitäre Hilfe: Mehr Engagement, nicht weniger | |
> Weltweit gibt es mehr Krisen als je zuvor. Doch humanitäre Hilfen werden | |
> zurückgefahren. Auch Deutschlands Entwicklungshilfe steht unter Druck. | |
Bild: Insbesondere im Südsudan sind mehr Menschen als je zuvor in humanitärer… | |
Heute leben 256 Millionen Menschen in Krisengebieten, in der Regel ohne | |
ausreichende Nahrung, haben kaum Zugang zu sauberem Wasser und zu anderen | |
lebenswichtigen Infrastrukturen. Die Zahl der Betroffenen hat sich im | |
letzten Jahrzehnt mehr als verdoppelt. Die gravierende Zuspitzung der | |
humanitären Lage in der Welt verdeutlicht die diesjährige [1][Emergency | |
Watchlist des International Rescue Committee (IRC)], eine Liste jener | |
Länder, in denen humanitäre Krisen voraussichtlich am stärksten eskalieren | |
oder neu entstehen, auf fatale Weise: Die Anzahl der Menschen, die auf | |
humanitäre Hilfe angewiesen sind, hat sich seit 2015 fast vervierfacht und | |
wird im Jahr 2025 auf über 305 Millionen ansteigen. Im vergangenen Jahr | |
wurden 123 Millionen Menschen gewaltsam vertrieben. | |
Dabei sind die Gründe für den steigenden Bedarf humanitärer Hilfe für | |
Millionen Leidtragende offenkundig: Kriege und Konflikte werden häufiger, | |
sie dauern länger und fordern mehr zivile Opfer. Jährlich führen wir vom | |
IRC mit der Emergency Watchlist jene 20 Länder auf, in denen im kommenden | |
Jahr mit einer drastischen Verschlechterung der humanitären Lage zu rechnen | |
ist. Obwohl in diesen 20 Staaten nur etwa 11 Prozent der Weltbevölkerung | |
leben, weisen diese Länder 82 Prozent des globalen humanitären Bedarfs auf. | |
Besonders schlecht sind die aktuellen Prognosen für Sudan, die besetzten | |
palästinensischen Gebiete, [2][Myanmar], Syrien und [3][Südsudan]. | |
Insbesondere in Sudan sind mehr Menschen als je zuvor in einem einzelnen | |
Land in humanitärer Not. Neben der größten Vertreibungskrise weltweit steht | |
das Land auch am Rande einer der schlimmsten Hungersnöte der vergangenen | |
Jahrzehnte. | |
Die Ursachen dafür liegen vor allem in vier sich gegenseitig verstärkenden | |
Faktoren, die Krisen vorantreiben und seit Jahrzehnten die Zahl der von | |
Katastrophen betroffenen Menschen ansteigen lassen. Zuallererst der Fakt, | |
dass es mehr Konflikte und weniger Diplomatie gibt. Dies ist das | |
offensichtlichste und zugleich gefährlichste Symptom eines globalen | |
Ungleichgewichts. 2023 gab es 59 Konflikte, das markiert einen Höchststand | |
seit dem Zweiten Weltkrieg. Internationale Akteure agieren dabei zunehmend | |
als Konfliktparteien statt als Vermittler. So wird der Sicherheitsrat der | |
Vereinten Nationen, der eigentlich den globalen Frieden sichern soll, durch | |
ständige Mitgliedstaaten gelähmt, die in den vergangenen zehn Jahren | |
dreimal so viele Vetos eingelegt haben wie im Jahrzehnt zuvor. | |
## Angriffe auf die Zivilbevölkerung steigen | |
Zudem steigen die Angriffe auf die Zivilbevölkerung, gleichzeitig gibt es | |
deswegen aber weniger Konsequenzen. Um 66 Prozent haben sich die Angriffe | |
auf zivile Personen zwischen 2013 und 2023 erhöht. Besonders gravierend: | |
Drei Viertel dieser Gewalttaten wurden in den Ländern der IRC-Watchlist | |
dokumentiert. Die parallel zunehmende Straflosigkeit schafft eine neue | |
Normalität, in der Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre | |
Völkerrecht als Teil von Konflikten akzeptiert werden. Angriffe auf | |
Krankenhäuser, Wasseranlagen und Hilfsorganisationen sind keine Seltenheit | |
mehr. In Ländern wie Sudan sind inzwischen 70 Prozent der Krankenhäuser | |
außer Betrieb. | |
Mehr Kriege und Krisen bedeuten mehr klimaschädliche Emissionen. Der | |
CO2-Ausstoß steigt trotz Warnungen und internationaler Klimaabkommen weiter | |
an. Am härtesten trifft der Klimawandel jene, die am wenigsten dazu | |
beitragen. So sind die Länder, die in der Watchlist genannt werden, nur für | |
4 Prozent der globalen Emissionen verantwortlich. Dennoch wirkt der | |
Klimawandel dort wie ein „Krisenmultiplikator“, der Armut, Hunger und | |
Vertreibung zusätzlich verschärft. Mehr noch: Nur jeweils 4,70 US-Dollar | |
pro Kopf und Jahr erhalten die 20 Länder der Watchlist von den | |
internationalen Geldern, um die Folgen des Klimawandels abzumildern. Die | |
übrigen Länder erhalten durchschnittlich über 95 US-Dollar. | |
## Wege aus der Abwärtsspirale | |
Obwohl globaler Wohlstand wächst, werden die ärmsten Länder immer ärmer. In | |
den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die extreme Armut weltweit | |
halbiert, in den Ländern der Watchlist indes ist sie seit Mitte der 2000er | |
Jahre um 85 Prozent gestiegen. Dabei spielen kriegerische | |
Auseinandersetzungen eine entscheidende Rolle: Im Durchschnitt sinkt das | |
Bruttoinlandsprodukt eines Landes innerhalb von fünf Jahren nach | |
Kriegsausbruch um 30 Prozent, während die Inflation im ersten Kriegsjahr um | |
15 Prozent steigt. | |
Wie könnten Wege aus der Abwärtsspirale durch Krisen aussehen? Die | |
Watchlist ist nicht nur ein Weckruf für die internationale Gemeinschaft, | |
sondern sollte auch für Deutschland als Wegweiser dienen. Öffentliche | |
Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe dürfen nicht | |
weiter gekürzt werden. Im Gegenteil: Einkommensstarke Länder müssen das | |
jahrzehntealte Versprechen einlösen, mindestens 0,7 Prozent ihres | |
Bruttonationaleinkommens für internationale Entwicklungszusammenarbeit | |
bereitzustellen. Nur so stehen die notwendigen Ressourcen für Nothilfe und | |
langfristige Lösungen bereit. Mindestens 50 Prozent der Gelder sollten für | |
fragile und konfliktbetroffene Staaten eingesetzt werden, um ihre besonders | |
vulnerable Lage abzufedern. | |
Die Gelder müssen verstärkt an lokale zivilgesellschaftliche Organisationen | |
fließen, um Nachhaltigkeit und Resilienz zu fördern. Einige weitere | |
Lösungsansätze sind die Förderung wirtschaftlicher Stabilität, verstärkte | |
Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel oder eine Reform des | |
UN-Sicherheitsrats. Grundsätzlich gilt: Mehr Krisen erfordern mehr, nicht | |
weniger Engagement. | |
So herausfordernd die innenpolitische Lage in Deutschland aktuell auch sein | |
mag: Um globale Politik mitzugestalten und globale Ungleichgewichte | |
aufzulösen, muss die [4][Bundesregierung einen entschlossenen humanitären | |
und diplomatischen Einsatz] in den Krisen der Welt zeigen. Ansonsten wird | |
sich Deutschland in der internationalen Staatengemeinschaft an der | |
Seitenlinie wiederfinden. | |
11 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.rescue.org/de/report/watchlist2025 | |
[2] /Myanmar-unter-der-Militaerdiktatur/!6060595 | |
[3] /Ausgangssperre-in-Suedsudan-nach-Unruhen/!6059811 | |
[4] /Aussen--und-Entwicklungspolitik/!6064732 | |
## AUTOREN | |
Corina Pfitzner | |
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