# taz.de -- Tabubruch im Bundestag: Empörung, um zu spalten | |
> Das „Migrationspaket“ der Union wird Gewalttaten nicht verhindern. Es | |
> wird die Probleme größer machen, wovon nur die AfD profitiert. | |
Bild: Die Einzigen, die profitieren: AfD-Alice und ihre Friends feiern sich nac… | |
Berlin taz | Die Abgeordneten der AfD lachen, sie freuen sich, reichen sich | |
die Hände. Es ist eines der Bilder dieser Woche, die in Erinnerung bleiben | |
werden. Es ist Mittwochabend. Soeben haben CDU/CSU gemeinsam mit der AfD | |
einen Antrag zur Migrationspolitik durch den Bundestag gebracht. Der | |
Antrag, der beschlossen wurde, ist rechtlich nicht bindend. Entscheidender | |
ist der Zusammenschluss von CDU/CSU, AfD, FDP: Diese Parteien verschafften | |
dem Unionsantrag eine Mehrheit. | |
Es ist das erste Mal, dass die Konservativen sich mit den Extremisten im | |
Bundestag zusammengetan haben. Es ist, das steht zu befürchten, erst der | |
Anfang einer Zusammenarbeit, die schließlich zu einer Regierungskoalition | |
von Union und AfD führen wird. Möglicherweise zuerst auf Länder-, | |
schließlich auch auf Bundesebene. Es geht nicht um das Ob, es geht um das | |
Wann. Es ging allerdings immer nur um das Wann – ab dem Tag, als die AfD | |
einen Platz im parlamentarischen System der Bundesrepublik errang. Der | |
Grund für diese Annahme ist die immer gleiche autoritäre Logik. | |
Noch im November hatte Friedrich Merz erklärt, die CDU werde „nur die | |
Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums setzen, über die wir uns | |
zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben, | |
sodass weder bei der Bestimmung der Tagesordnung noch bei den Abstimmungen | |
in der Sache hier im Haus auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder | |
tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da von der AfD zustande | |
kommt“. Zwei Monate später haben CDU/CSU nun das Gegenteil getan: Weder | |
haben sie sich über ihre Anträge mit den anderen demokratischen Parteien | |
geeinigt, noch haben sie verhindert, dass eine Mehrheit mit der AfD | |
zustande kam. | |
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) hatte den Plänen der Merz-CDU, die | |
Grenzen „ausnahmslos“ zu schließen, schon vor den Beratungen im Bundestag | |
eine Absage erteilt. Flächendeckende Kontrollen und Zurückweisungen an den | |
Grenzen seien „nicht durchsetzbar“. [1][Andreas Roßkopf, in der GdP | |
zuständig für die Bundespolizei, sagte gegenüber dem ZDF]: „Wir sind mit | |
der Art und Weise der Grenzkontrollen, die wir jetzt schon betreiben, am | |
Rande des Machbaren.“ | |
## Wie umgehen mit den Demagogen? | |
In Zeiten, in denen autoritäre Kräfte erstarken, orientiert sich Politik | |
aber nicht am Machbaren. Sie orientiert sich an dem, was die Autoritären | |
vorgeben. Autoritäre Kräfte wirken über Spaltung, nicht über gute Politik. | |
Die AfD liegt in Umfragen seit Monaten bei etwa 20 Prozent. SPD und Grüne | |
haben zusammen je nach Umfrageinstitut rund 30 Prozent Zustimmung. Von | |
einer Mehrheit ist die AfD also weit entfernt. Dennoch bestimmt sie | |
politische Entscheidungen maßgeblich, wenn nicht hauptsächlich, mit. | |
Wie autoritäre Parteien und Politiker:innen derart einflussreich | |
werden, lässt sich derzeit in vielen Staaten beobachten: den USA, den | |
Niederlanden, Ungarn, Frankreich. Schon 2018 hat der amerikanische | |
Politikwissenschaftler [2][Daniel Ziblatt] in seinem Werk „Wie Demokratien | |
sterben“ ebendiese Mechanismen detailliert niedergeschrieben. Im | |
vergangenen Jahr sagte er in einem Podcast, er beobachte, dass autoritäre | |
Kräfte auf die immer gleiche Weise vorgehen. Es sei im Prinzip eine | |
Faustregel, sagt Ziblatt, dass „in jeder Demokratie, in jedem Moment in der | |
Geschichte 20 bis 30 Prozent der Wähler:innen die Idee eines Demagogen, | |
einer antiliberalen, antidemokratischen Partei oder eines Anführers | |
reizvoll finden werden“. Die Frage sei, wie man mit diesen Kräften umgehe. | |
Denn die Verletzlichkeit einer Demokratie rühre von Menschen her, die | |
miteinander um Macht ringen, die ein Amt erlangen wollen – dann sei es für | |
eine demokratische Partei oder Politiker:in sehr verlockend, sich mit | |
diesen autoritären Akteuren oder Kräften zu verbünden, meint Ziblatt. | |
In dieser Woche haben Friedrich Merz und seine CDU/CSU-Parteikolleg:innen, | |
die ihren Antrag mit Hilfe der AfD durch das Parlament brachten, ebendiese | |
Verletzlichkeit der Demokratie herbeigeführt. Autoritäre Kräfte wie die AfD | |
in Deutschland oder Donald Trump in den USA müssen im Prinzip nur abwarten | |
und die Bevölkerung polarisieren. Das Thema, das sich in westlichen | |
Demokratien historisch am besten dafür nutzen lässt, ist die Einwanderung. | |
Die Geschichte des „Wir“ gegen „Die“ wurde in dieser Woche im Bundestag | |
einmal mehr erzählt. | |
Die politische Instrumentalisierung dieser Erzählung ist besonders riskant, | |
weil die Gräben in der immer schon polarisierten deutschen | |
Einwanderungsgesellschaft nun drohen noch tiefer zu werden. Das liegt auch | |
am deutschen Staatsbürgerschaftsrecht, das es eingewanderten Menschen bis | |
zum Jahr 2000 praktisch unmöglich machte, Deutsche zu werden. Auch ihre | |
Kinder, die in Deutschland geboren wurden, blieben Ausländer. Der Grund | |
dafür war ein Gesetz von 1913: Es beruhte auf dem Abstammungsprinzip und | |
ließ Menschen, die nicht deutschen „Blutes“ waren, nicht als rechtlich | |
gleichgestellte Bürger:innen gelten. | |
## „Wir Deutsche“ gegen „Die Ausländer“ | |
Die Teilung der Bevölkerung in „Deutsche“ und „Ausländer“ war | |
jahrzehntelang Gesetz. Eine echte Einwanderungsgesellschaft konnte so trotz | |
Millionen eingewanderter Menschen nicht entstehen. Weder in der | |
Bundesrepublik noch in der DDR, wo Menschen als | |
Vertragsarbeiter:innen ins Land geholt, aber vom Rest der | |
Gesellschaft getrennt wurden. | |
Schon 1999 kämpfte die CDU gegen eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts | |
und nutzt das Thema auch heute noch fortwährend zur Polarisierung. Der | |
deutsche Pass werde „verramscht“, heißt es im Wahlkampf besonders oft von | |
der Union – und hier trifft sie sich mit der AfD. Diese autoritär gesinnte | |
Partei denkt in der Logik des Staatsbürgerschaftsrechts von 1913 und agiert | |
maßgeblich entlang der Spaltungslinie „Wir Deutsche“ gegen „Die Ausländ… | |
Sicherheit, Wohlstand, jegliche Interessen von „echten“ Deutschen werden | |
gegen die vermeintliche Bedrohung von eingewanderten Menschen ausgespielt. | |
Die Rechte von Eingewanderten sollen beschnitten werden – zum Wohle der | |
Deutschen, so die gemeinsame Erzählung von Union und AfD. Beide Parteien | |
fordern, Deutsche, die eingebürgert sind, wieder auszubürgern. Die CDU nahm | |
dieses Vorhaben jüngst in ihr Wahlprogramm auf. | |
Das ist der Grund, warum eine Regierungskoalition zwischen CDU/CSU und AfD | |
nach dieser Woche ein großes Stück näher gerückt ist. Denn ob es dazu | |
kommt, hängt nicht etwa von der Union ab. Sondern allein von äußeren | |
Umständen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im | |
Bundestag, Thorsten Frei, erklärte die Kehrtwende der Union kürzlich mit | |
einer „fundamental neuen Sachlage“ nach der Attacke von Aschaffenburg. Neue | |
Ereignisse scheinen frühere Versprechen der CDU also wertlos werden zu | |
lassen – und damit freilich auch jenes Versprechen von Friedrich Merz, er | |
werde niemals mit der AfD koalieren. Inhaltlich sind Union und AfD zu | |
Fragen von Einwanderung und Migration auf einer Linie. Bei ihren | |
Forderungen zu Einwanderung und Migration gibt es zwischen Union und AfD | |
kaum noch Unterscheide. | |
Hier muss eine autoritäre Kraft wie die AfD nichts anderes tun, als | |
abzuwarten. Denn das nächste Gewaltverbrechen, das von einer eingewanderten | |
Person ausgeübt wird, wird kommen. Jede Gewalttat – ob die tägliche Tötung | |
von Frauen oder ein Messerangriff – ist in ihrem Zustandekommen weitaus | |
komplexer, als dass ein „Migrationspaket“ sie verhindern könnte. Sie hat | |
vielfältige Ursachen, von denen eine nach der anderen untersucht und | |
bearbeitet werden müsste. Natürlich kann eine dieser Ursachen in nicht | |
funktionierenden Regeln zur Migration liegen. Die grundsätzliche | |
Kriminalisierung von Migrant:innen macht jedoch die Probleme größer. | |
Genau darauf wartet derweil die AfD, die von ebendiesen Problemen | |
profitiert. | |
## Treibstoff für die autoritären Kräfte | |
In den USA hat es Donald Trump durch seine Tiraden gegen „illegale | |
Migranten“ zurück ins Weiße Haus geschafft. Er machte eine vermeintliche | |
„Invasion“ an der [3][Südgrenze der USA zum Hauptthema seiner | |
Wahlkampagne]. Wie sehr er dieses Thema braucht, zeigte seine Ablehnung | |
eines Migrationsgesetzes, das Demokraten und Republikaner noch unter Joe | |
Biden beschließen wollten. Es enthielt einen Großteil der Forderungen | |
Donald Trumps – er aber verbot seiner Partei, dafür zu stimmen. Autoritäre | |
Kräfte wollen Probleme nicht lösen. Sie wollen sie instrumentalisieren. | |
SPD und Grüne inszenieren sich derweil als Demokrat:innen und wollen | |
die Situation auf ihre Weise nutzen. Sie, die Aufrechten; Union und AfD, | |
die Unaufrechten. Dabei wird leicht vergessen, dass beide Parteien in den | |
vergangenen Jahren Debatten und Gesetzesverschärfungen, die auf der | |
Kriminalisierung von Menschen beruhen, mitgetragen oder sich nicht gegen | |
sie gestellt haben. Außerdem haben die beiden Parteien nicht mal | |
angedeutet, dass das gemeinsame Abstimmen der Union mit der AfD einer | |
eigenen Koalition mit der Union nach den Wahlen im Wege stehen könnte. | |
So bleibt nach dieser Woche vor allem das Bild der fröhlichen | |
AfD-Abgeordneten, während eine Welle der Empörung durch das Land zieht. | |
Empörung über die „anderen“ ist aber auch der Treibstoff, mit dem | |
autoritäre Kräfte fahren. Sie brauchen Empörung, um zu spalten. Sie | |
brauchen Spaltung, um aufzusteigen. Die Einzigen, die davon profitieren, | |
sind sie selbst. | |
1 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/reaktionen-grenzkontroll… | |
[2] /Politologe-ueber-US-Demokratie/!6008687 | |
[3] /US-Migrationspolitik/!6059571 | |
## AUTOREN | |
Gilda Sahebi | |
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