# taz.de -- Unterdrückte Wut: Höchste Zeit zu Schreien | |
> Als Baby schreien wir bei jedem Bedürfnis, als Erwachsene schlucken wir | |
> viel herunter. Gerade ist ein guter Moment, wieder mit dem Schreien | |
> anzufangen. | |
Bild: Nicht singen: Schreien! | |
Es ist Anfang Januar und wir steigen auf den Berg hinter unserem Haus. Wir | |
müssen mal wieder in den Himmel schreien, findet meine Mitbewohnerin, den | |
Druck loswerden. Also laufen wir in den Park und erklimmen den 50 Meter | |
hohen Hügel. In Berlin ist das einiges, man fühlt sich dem Himmel gleich | |
viel näher. | |
Oben auf dem Plateau sitzt ein Paar auf einer Bank, wir zögern kurz, | |
wollten eigentlich unbemerkt bleiben. Das macht man ja nicht, einfach so | |
rumschreien. | |
Als Baby schreien wir bei jedem Bedürfnis, Hunger, Durst, nicht mehr liegen | |
wollen, liegen wollen, Bauchweh, noch mehr Hunger. Als Kleinkind schreien | |
wir, weil uns die Argumente fehlen. Ich warf mich leidenschaftlich gerne | |
auf den Supermarktboden und brüllte, weil ich kein Überraschungsei bekam. | |
Ein paar Jahre später wurde mir dann klar, dass diese Taktik völlig | |
kontraproduktiv ist. Seit ich erwachsen bin, schreie ich kaum noch. | |
Dabei hat Schreien positive Effekte. Ein Freudenschrei kann zum Beispiel | |
ansteckend sein. Wenn wir Ärger herausschreien, kann uns das befreien. | |
Forscher:innen der Universität Heidelberg haben herausgefunden, dass | |
ängstlichere Menschen dazu neigen, Ärger herunterzuschlucken, anstatt ihn | |
rauszulassen. Dann staut er sich an. | |
## 2025 ist alles zum Schreien | |
Meine Mitbewohnerin und ich wollen nichts mehr runterschlucken, geben uns | |
einen Ruck und zählen runter, drei, zwei, eins, wir schreien in den | |
überraschend blauen Januarhimmel: „Hallo 2025, sei gut zu uuuuns!“ Dem Paar | |
sind wir ziemlich egal. | |
Aber das neue Jahr scheint unseren Ruf nicht zu erhören. [1][Trump], | |
[2][Merz], alles zum Schreien. Ich überlege, das Fenster aufzureißen und so | |
laut ich kann zu rufen: [3][„Habt ihr alle vergessen, dass es ein Recht auf | |
Asyl gibt?“] | |
Energie habe ich dafür nicht. Während sich der deutsche Wahlkampf in eine | |
ekelhafte Migrationsdebatte verwandelt, liege ich mutlos auf dem Sofa. Ich | |
fühle mich wie eine dieser aufblasbaren Winkepuppen, die einen in den | |
Dönerladen lotsen, nur ohne Luft. Schlapp und zerknittert bleibe ich | |
liegen. | |
## Zusammen schreien statt alleine weinen | |
[4][Bis am vergangenen Wochenende in Berlin spontan zur Demo aufgerufen | |
wird.] Merz [5][reißt die Brandmauer zur AfD ein], ich versuche mich wieder | |
zu straffen. Aber auf der Demo klaffen um mich herum überall große Lücken | |
zwischen den Menschen. Es ist viel zu leer und viel zu warm für Januar. Bei | |
zehn Grad schwitze ich in meine Daunenjacke. Alles aussichtslos. | |
Dann singen wir die umgeschriebene Version des Kanons „Hejo, spann den | |
Wagen an“. „Wehrt euch, leistet Widerstand, gegen den Faschismus hier im | |
Land.“ Erst muss ich an den Schulchor denken, an Wanderungen, aber dann | |
wird meine Stimme kräftiger und es beginnt, sich ein bisschen wie eine | |
Umarmung anzufühlen. Nicht singen: Schreien! | |
Mit jeder Wiederholung rufe ich lauter. Der Sauerstoff belebt mich. Meine | |
Lunge füllt sich mit Luft und ich schreie sie wieder raus. Ich spüre, die | |
Energie kommt zurück. Und die werden wir alle noch gebrauchen können. | |
31 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Fichtner | |
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