# taz.de -- Die Grünen und der Klimaschutz: Roberts Dilemma | |
> Der Kampf gegen die Erderwärmung drängt und fordert schmerzhafte | |
> Maßnahmen. Doch mit Klima um Stimmen werben? Die Grünen halten sich | |
> lieber bedeckt. | |
Bild: Entkerntes Kernthema: Wahlkampfauftakt des Grünen-Spitzenpersonals in L�… | |
Lübeck/Berlin taz | Im Norden der Lübecker Altstadt steht seit hunderten | |
Jahren das Gebäude der Schiffergesellschaft. Früher war es das Zunfthaus | |
der Kapitäne, heute befindet sich darin ein Restaurant, und damals wie | |
heute ist auf den beiden Stelen vor dem Eingang ein Spruch zu lesen. „Allen | |
zu gefallen“, steht dort, „ist unmöglich.“ | |
Einen guten Kilometer entfernt, am anderen Ufer der Trave, stauen sich am | |
späten Montagnachmittag die Menschen vor der Lübecker Kongresshalle. Der | |
Veranstaltungsort, den die Grünen für ihren Wahlkampfauftakt in der | |
Geburtsstadt ihres Kanzlerkandidaten Robert Habeck gebucht haben, ist zu | |
klein. Geschickt falsch geplant: Am nächsten Tag schreiben die Zeitungen | |
von einem Riesenandrang auf den überfüllten Saal. Ein gelungener Start in | |
den zweiten Anlauf, die Schiffergesellschaft zu widerlegen. | |
Die Kernwählerschaft halten, gleichzeitig massiv in neue Milieus vordringen | |
und somit wachsen – auf 15 Prozent, auf 20 Prozent oder mehr: Bei der Wahl | |
2021 war das erstmals das Ziel der Grünen. In Umfragen sah es | |
zwischenzeitlich gut aus, am Wahltag klappte es dann nur noch leidlich. | |
2025 will die Partei es trotzdem noch mal versuchen. Viele Grüne schauen | |
verdutzt, wenn man wissen will, wen sie denn diesmal erreichen möchten. | |
Stammklientel oder Wechselwähler*innen? Was für eine Frage, natürlich | |
beide! Der Anspruch bleibt, obwohl die Rahmenbedingungen so viel | |
schwieriger geworden sind. Nach drei Regierungsjahren sind die Grünen in | |
vielen Bereichen in der Defensive. Am offensichtlichsten wird das an ihrem | |
Markenkern: der Klimapolitik. | |
## Sorge vor der Überforderung | |
Nüchtern betrachtet ist die grüne Bilanz zwar in Ordnung. Erst in dieser | |
Woche hat die Denkfabrik Agora Energiewende der Partei einen Erfolg | |
bescheinigt. Die Treibhausgasemissionen sind im letzten Jahr erneut | |
gesunken. Die eigenen Zielvorgaben hat die Bundesregierung 2024 erfüllt, | |
und das vor allem, weil sie den Ausbau der erneuerbaren Energien angezogen | |
hat. Ein Verdienst von Klimaminister Habeck. | |
In der Minderheit in der Bevölkerung, der der Klimaschutz auch heute noch | |
besonders wichtig ist, hält sich trotzdem große Skepsis. Jenseits der | |
Stromerzeugung, auch das ist in der Agora-Studie nachzulesen, gibt es kaum | |
zählbare Fortschritte. Dass das für den Verkehrs- und den Gebäudesektor | |
keine unmittelbaren Konsequenzen hat, liegt daran, dass die Ampel mit | |
grüner Zustimmung verbindliche Vorgaben aus dem Klimaschutzgesetz | |
gestrichen hat. Und viel mehr Symbolkraft als der Erlass von | |
Regierungsverordnungen, die den Bau von Windrädern erleichtern, hatten | |
andere Habeck-Entscheidungen: die Errichtung von LNG-Terminals oder der | |
Abriss des Dorfes Lützerath zugunsten des Braunkohle-Abbaus. | |
Doch während es den einen zu langsam geht, ist es den anderen schon zu viel | |
geworden. Eine Mehrheit der Deutschen erkennt die Klimakrise zwar weiterhin | |
als Problem, das zeigen Umfragen konstant. Anders als 2021 hat das Klima | |
aber nicht mehr Priorität. Kriege, Inflation, Wirtschaftskrise: Andere | |
Ängste haben sich davor geschoben. Die Sorge, von Klimapolitik überfordert | |
zu werden, ist gestiegen. | |
Wie führt man da einen Klimawahlkampf, der beiden Seiten gerecht wird? | |
Zunächst einmal damit, nicht zu penetrant übers Klima reden. Diesen | |
Eindruck vermitteln die Grünen zumindest in den ersten Tagen der heißen | |
Wahlkampfphase. 2021 versprachen sie in ihrem Wahlprogramm noch, das Klima | |
„in den Mittelpunkt“ ihres Regierungshandelns zu stellen und „das Handeln | |
aller Ministerien“ danach auszurichten. Das Klima zu schützen hatte einen | |
Wert an sich, und das war der Kern ihrer Kampagne. | |
## „Klima“ drucken sie klein | |
Und heute? In einem braven Versuch, frech zu sein, [1][projektierten die | |
Grünen zum Jahresbeginn eine Botschaft an Sehenswürdigkeiten verschiedener | |
Städte]. Der Inhalt: nicht die Verkehrswende oder grüner Stahl, sondern | |
Robert Habeck. Der Kandidat am Küchentisch, der Kandidat beim Joggen, der | |
Kandidat beim Sinnieren über Kompromisse – solche Motive sind in der | |
Grünen-Kampagne bislang am stärksten präsent. | |
In der Parteizentrale bestreitet man, das Klima zur Nebensache zu machen. | |
Und natürlich: Unter den Plakaten, die Parteimitglieder in diesen Tagen | |
deutschlandweit aufhängen, ist auch eines zu „Natur und Klima“. Das „Kli… | |
ist darauf aber kleingedruckt. Und als Robert Habeck zum Wahlkampfauftakt | |
in Lübeck redet, streut er den Klimaschutz fein dosiert zwischen andere | |
Themen wie den Rechtsruck, die russischen Aggressionen, die | |
Wirtschaftskrise und vor allem die soziale Lage. | |
Nicht mehr als Zweck für sich, sondern als Mittel zum Zweck: Erneuerbare | |
Energien, so Habeck, seien ohnehin günstig. Die Abgaben auf Strompreise | |
wolle man auch noch senken und damit die Nachfrage nach Elektroautos und | |
Wärmepumpen steigern. „Wir entlasten die Haushalte, schützen das Klima und | |
erneuern unsere Wirtschaft durch diese Vorschläge. Darum geht es in diesem | |
Wahlkampf.“ | |
Zentrale Klimabotschaften der Grünen sind mit Vergünstigungen verbunden, | |
hinterlegt mit einem vagen Finanzierungskonzept aus Krediten und höheren | |
Steuern für Superreiche. Neben billigem Strom geht es zum Beispiel darum, | |
den Preis des Deutschlandtickets wieder auf 49 Euro zu drücken. Geld sparen | |
und gleichzeitig den CO2-Ausstoß verringern – quasi Win-win-Maßnahmen, die | |
tatsächlich fast allen gefallen sollten. Als Lehre aus dem Gegenwind der | |
Regierungsjahre und dem Vorwurf an die Grünen, sozial blind zu handeln, ist | |
der Ansatz schlüssig. | |
## Zwischen Kulturkampf und Kosten | |
Aber reicht das auch, um die Erderwärmung ausreichend zu verlangsamen? An | |
der Parteibasis kommt das Konzept im Prinzip gut an, in Teilen wurde es | |
sogar von dort eingefordert. Unter den Mitgliedern sieht man aber auch noch | |
Leerstellen. Am Entwurf für das Wahlprogramm, das ein Parteitag Ende Januar | |
beschließen soll, gibt es mehr als 1.800 Änderungsanträge. In vielen davon | |
geht es um ambitionierteren Klimaschutz. | |
Es wird zum Beispiel gefordert, Subventionen für Dienstwagen, Diesel und | |
Kerosin abzuschaffen. Das würde weitere Emissionen einsparen, viele | |
Menschen aber doch wieder Geld kosten. Es wird gefordert, Tempo 30 als | |
Regelgeschwindigkeit in Ortschaften einzuführen. Das kostet nichts, könnte | |
aber den nächsten Kulturkampf auslösen. Und es wird gefordert, die Reform | |
des Klimaschutzgesetzes zurückzudrehen, somit den einzelnen Ministerien | |
wieder verbindliche Ziele vorzugeben und sie im Endeffekt also doch wieder | |
zu mehr Zumutungen zu zwingen. | |
Effektiven Klimaschutz, der gar niemandem etwas abverlangt, könne es gar | |
nicht geben: Das ist auch die Ansicht der Aktivist*innen von Fridays | |
for Future. Die Bewegung setzt zwar ebenfalls auf sozialen Klimaschutz und | |
hat im Prinzip sogar vorgemacht, was die Grünen jetzt im Wahlkampf | |
versuchen. Auf der Suche nach Antworten auf ihre eigene Krise haben die | |
Fridays schon vor über einem Jahr ein Bündnis mit der Gewerkschaft Verdi | |
geschlossen. Gemeinsam mit Busfahrer*innen haben sie für mehr | |
Klimaschutz und höhere Löhne demonstriert. | |
FFF-Sprecherin Carla Reemtsma geht es trotzdem zu weit, wie die Grünen | |
jetzt probieren, Konfliktzonen im Wahlkampf auszusparen. „Sie versuchen, | |
den Eindruck zu erwecken, dass Wohlfühlklimaschutz und ein ökologisches | |
‚Weiter so‘ ohne substanzielle Veränderungen ausreichen würden“, [2][sa… | |
Reemtsma]. Robert Habeck nimmt sie übel, dass er im Dezember sogar den | |
Kohleausstieg 2030 in Frage gestellt hat. | |
## Es kommt auf die Wechselwähler*innen an | |
Aber müssen die Grünen deswegen um die Stimmen der Fridays, der anderen | |
Klimabewegten und der Stammklientel bangen? Viel Konkurrenz gibt es um sie | |
nicht. [3][Die Kleinpartei Volt] hatte den Grünen bei der Europawahl | |
Stimmen abgenommen und versucht das jetzt wieder. Die Partei wirbt mit | |
Klimaneutralität schon 2040, nicht erst 2045. Die Erfahrung zeigt aber: Bei | |
Bundestagswahlen neigen die Wähler*innen stärker zu den Etablierten. Auf | |
dem Papier ist auch die Klimapolitik der Linkspartei ambitionierter als die | |
der Grünen. Aber deren schlechte Umfragewerte von 3 bis 4 Prozent könnte | |
ebenfalls Wähler*innen abschrecken. | |
Dagegen sind nach dem Bruch der Ampelkoalition die Umfragewerte der Grünen | |
leicht gestiegen – ein Indiz dafür, dass ihnen die Kernwählerschaft im | |
Moment nicht wegläuft. Im neuen Politbarometer des ZDF liegen die Grünen | |
sogar zum ersten Mal seit einem Jahr wieder einen Prozentpunkt vor der SPD. | |
Wollen die Grünen diesen Trend verstetigen, kommt es wirklich auf die | |
Wechselwähler*innen an. | |
Möglich, dass die Grünen dort noch Wahlkampfhilfe bekommen. Donald Trump | |
will nach seinem Amtsantritt die Transformation in den USA rückgängig | |
machen. In Deutschland [4][droht in dieser Frage die Union mit krassen | |
Rückschritten]. Übertreibt sie es mit solchen Ankündigungen, erinnern sich | |
Wähler*innen vielleicht über die klassische Grünenklientel hinaus daran, | |
wie wichtig sie den Klimaschutz vor ein paar Jahren einmal fanden. | |
In der SPD hat man schon erkannt, dass das Klimathema auch in der Mitte | |
wieder Mobilisierungspotenzial bieten könnte. In einer schwarz-roten | |
Koalition würde seine Partei den Klimaschutz nicht opfern, versicherte | |
SPD-Generalsekretär Matthias Miersch unlängst. Seine Partei achte in dieser | |
Frage aber auch auf den sozialen Zusammenhalt und die Wirtschaft. Das sei | |
der Unterschied zu den Grünen. | |
Die offenen Flanken für solche Angriffe schließen: Das ergibt für die | |
Grünen wahltaktisch Sinn. Umso schwieriger wird es aber, falls das Kalkül | |
aufgeht. Falls die Grünen bis zur Wahl noch ein paar Prozentpunkte zulegen, | |
CSU-Chef Markus Söder seine Fatwa gegen sie aufgibt und ihr | |
Win-win-Programm in der nächsten Regierungsbeteiligung in den | |
Realitätscheck gerät. Und das alles unter den Augen einer Öffentlichkeit, | |
der schon länger niemand gesagt hat, dass echter Klimaschutz nicht immer | |
schmerzfrei für alle ist. | |
11 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Habeck-Werbung-in-Muenchen/!6057075 | |
[2] /Fridays-for-Future/!6057359 | |
[3] /Kleinparteien-vor-der-Bundestagswahl/!6059079 | |
[4] /Bundestagswahl-2025/!6056700 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
## TAGS | |
Klima | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
GNS | |
Schwerpunkt Fridays For Future | |
Robert Habeck | |
Klima | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Robert Habeck | |
Zukunft | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Fridays for Future: Die letzten Grünen | |
Fridays for Future mobilisiert nicht mehr die Massen und Klima spielt im | |
Wahlkampf keine große Rolle. Warum die Bewegung erst recht weitermacht. | |
Habeck stellt neues Buch vor: Sich „tastend bewegen“ | |
Robert Habeck stellt mitten im Wahlkampf sein neues Buch „Den Bach rauf“ | |
vor. Darin verrät er auch, was er aus politischen Krisen gelernt hat. | |
Sozialwissenschaftlerin Ilona Otto: „Klimaneutralität würde uns mehr Freihe… | |
Mit Klima ließe sich Wahlkampf machen, sagt die österreichische Forscherin | |
Ilona Otto. Dafür müsste die Politik die Chancen thematisieren. | |
Grünen-Pläne zur Krankenversicherung: Ohne Schutzschild aus der Deckung | |
Wirtschaftsminister Robert Habeck fordert Abgaben auf Kapitalerträge und | |
bekommt erstmals im Wahlkampf Vorwürfe ab. Seine Verteidigung ist | |
halbherzig. | |
Streit um höhere Ukraine-Hilfen: Die Frage nach den zusätzlichen drei Milliar… | |
SPD und Grüne liegen bei Hilfen für die Ukraine über Kreuz. Anton Hofreiter | |
wirft dem Kanzler vor, zusätzliche Zahlungen zu behindern. | |
Brandkatastrophe in Los Angeles: Ist das die Klimakrise? | |
Mindestens zehn Menschen sind durch Waldbrände gestorben, 10.000 Gebäude | |
zerstört. „Feuerwetter“ wird in Kalifornien durch die Erderhitzung | |
häufiger. | |
Habeck-Werbung in München: Grüne Projektion | |
Am Siegestor erstrahlte das Gesicht von Habeck. Öffentlichen Raum für | |
nichtssagende Wahlwerbung zu nutzen, ist aber sowohl verboten als auch | |
unoriginell. | |
Forschung zu Klimabewegung: Wie radikale Gruppen der Klimabewegung nutzen | |
Gemäßigte Protestgruppen profitieren von ihren radikalen Pendants, zeigt | |
eine Studie. Zwischen Unterstützung und Polarisierung verläuft ein schmaler | |
Grat. |