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# taz.de -- Archaik-Tanztheater in Osnabrück: Immer wieder – Nebel
> Terminlich passend bringt das Theater Osnabrück James Wiltons Tanzstück
> „Midwinter“ auf die Bühne. Was genau da beschworen werden will, bleibt
> dunkel.
Bild: Alles dreht sich um die Sonne: Tanzstück „Midwinter“ in Osnabrück
Ein bedrohlich roter Kreis glüht in tiefer Dunkelheit. Ist es der Mond?
Nebel wallt, ansonsten: Warten, Stille, Leere. Man meint ein Atmen zu
hören. So beginnt „Midwinter“, eine nun in Osnabrück aufgeführte Arbeit …
britischen [1][Choreografen] James Wilton – Premiere nicht von ungefähr
am vergangenen Sonnabend, zur Wintersonnenwende.
Dann sammeln sich Menschen vor uns, langsam, wie hypnotisiert: Ihre
Kleidung wirkt altertümlich, schlicht, fast farblos. Ein spiralförmiger,
trancehafter Kreistanz beginnt. Er wirkt wie ein Anderswelt-Ritual, wie
eine Beschwörung, eine Anbetung. Schwere teilt sich mit, Beklemmung. Am
Ende ist der Raum hell und der Kreis tatsächlich eine Sonne, die Frühling
verheißt. Menschen entsteigen ihr, gehen in ihr auf. Die Zeit der langen,
eisigen Nächte ist vorüber, das Licht kehrt zurück, Hoffnung keimt auf.
Wilton stellt die Behauptung auf, seine Wintersonnenwende tauche tief in
die keltische Mythologie ein. Klar ist jedoch: Anspruch auf historische
Korrektheit können seine Beschwörungsszenen nicht erheben. Was uns
entgegentritt, wirkt stattdessen wie ein Fantasie-Konglomerat vieler
Vergangenheiten. Da treibt ein Wesen mit gehörntem Pferdeschädel die Menge
vor sich her. Ein Baumstamm wird verehrt. In einem Kuchen findet sich eine
Münze, die den Finder zum König macht – für einen Tag. Jahrtausende ziehen
an uns vorüber, Epochen, Kulturen.
Das alles böte Stoff, das Wesen des Menschen zu definieren. Sich
abzuarbeiten an dem, was uns alle vereint – was unser aller Sehnsucht ist.
Aber das gelingt Wilton nicht. „Midwinter“ konfrontiert uns mit
klischeebehafteter Ethno-Archaik. Das Spektakel dient sich dann auch noch
so stark der eklektischen Fantasy-Optik der musikalisch beteiligten Band
„Heilung“ an, dass es sich von deren neo-pagan-schamanistischem Geraune und
Gegrolle kaum wieder zu emanzipieren weiß.
Die Band, [2][gedanklich und sprachlich angeblich zwischen Eisenzeit und
Frühmittelalter angesiedelt], ist keine unproblematische Wahl: Unter ihren
Videos wird auf YouTube schon mal NS- und AfD-Lastiges gepostet; nach einem
Rassismus-Vorfall auf einem ihrer Konzerte musste die Band sich 2020 von
„hate speech“ und „white supremacy“ distanzieren: Wälle aus Rundschild…
hat sie zu ihren Klangkulissen schon gezeigt, Wälder aus Speeren.
[3][Das lockt offenbar auch Germanenkult-Begeisterte an, Odinsjünger,
Neo-Faschisten]. Zumal vor dem Hintergrund, dass die Wintersonnenwende
[4][im Feiertags-Kalender des Nationalsozialismus] steht, kann irritieren,
wie viel Raum so eine Band, so eine Ästhetik nun von Wilton eingeräumt
bekommen.
Trommeldonner, Sprechgesang, stampfende Füße, anbetend gen Himmel erhobene
Hände: Offenbar gehört das dazu, wenn angebliche Uralt-Rituale nachgestellt
werden, wie authentisch oder erfunden auch immer. Menschen wälzen sich
halbnackt am Boden, winden sich umeinander, stoßen wilde Schreie aus,
fechten Kämpfe aus, haben animalisch-ekstatisch Sex. Das wirkt teils
dynamisch und teils kraftvoll, auch wenn die Athletik zuweilen zu wünschen
übrig lässt.
Aber viele Szenen sind überlang, bestehen aus zu viel Wiederholung. Hinzu
kommt: Was textlich auf uns einbrandet, ist meist nicht zu verstehen;
helfen würden nicht mal Kenntnisse alter wie neuer skandinavischer
Sprachen. Worum genau es geht, bleibt so dunkel wie die Bühne, auf der die
TänzerInnen manchmal nur schemenhaft zu erkennen sind.
Die Frauen tragen geflochtene Zöpfe, als seien wir bei „Vikings“-TV. Am
Ende bemalen sich alle Braveheart-blau, wohl weil das angeblich schon die
Germanen und Kelten taten. Und immer wieder wallt Nebel, weil’s so schön
mystisch ist.
In einer [5][online veröffentlichten „Audio-Einführung“] betont Dramaturg…
Britta Horwath Wiltons „ganz besondere tänzerische Handschrift“, spricht
von Akrobatik, dem „zeitgenössischen Tanz am und mit dem Boden“. Uns tritt
ein Stück entgegen, dem es um Naturkreisläufe geht, um innere Besinnung.
Körper wirbeln, schleifen, kriechen, werfen sich. War es so, bei den
Kelten, den Wikingern? Niemand weiß es.
28 Dec 2024
## LINKS
[1] /Tanz/!t5011044
[2] /Folk/!t5023063
[3] /Schwerpunkt-Rechte-Musik/!t5054728
[4] /Protest-gegen-Sonnwendfeier-der-NPD/!5899206
[5] https://soundcloud.com/theaterosna/dramaturgische-einfuhrung-midwinter
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## TAGS
Tanz
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