| # taz.de -- Mindestlohn feiert 10-jähriges Jubiläum: Deutschland doch nicht u… | |
| > Die Unkenrufe der Mindestlohn-Gegner haben sich nicht bewahrheitet. | |
| > Steigt der Mindestlohn demnächst auf 15 Euro pro Stunde? | |
| Bild: Auf dem Dach der ver.di Bundeszentrale im Jahr 2014 vor Aufhängung eines… | |
| Berlin taz | Beinahe wäre Deutschland untergegangen. Fast eine Million | |
| Arbeitsplätze würden gefährdet, befürchtete Hans-Werner Sinn, der ehemalige | |
| Chef des Münchner ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Doch es passierte | |
| kaum Negatives. Im Gegenteil: Vielen Leuten ging es besser, als der | |
| gesetzliche Mindestlohn eingeführt wurde. | |
| Das war 2015, am 1. Januar genau vor zehn Jahren. Eine Dekade später ist | |
| diese Untergrenze erneut umstritten. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) | |
| plädiert seit geraumer Zeit dafür, den Mindestlohn deutlich auf 15 Euro pro | |
| Stunde anzuheben. Diese Position hat es auch ins Programm der SPD für die | |
| Bundestagswahl im Februar 2025 geschafft. Dahinter steht wieder die Frage: | |
| Nützt die Regelung mehr oder schadet sie? | |
| Das Mindestlohn-Gesetz ist einfach und wirksam. Momentan schreibt es vor, | |
| dass grundsätzlich alle Beschäftigten hierzulande pro Stunde mindestens | |
| 12,41 Euro brutto erhalten müssen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Eine | |
| Kommission aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Wissenschaftlern beschließt | |
| über regelmäßige Erhöhungen. Der Zoll kontrolliert, dass die Firmen den | |
| Lohn auch tatsächlich zahlen. | |
| ## Die Einführung brachte einen Quantensprung | |
| Als das 2015 eingeführt wurde, war es ein Quantensprung. Knapp vier | |
| Millionen Beschäftigte, die vorher teils deutlich weniger verdienten, | |
| hatten plötzlich das Recht auf 8,50 Euro pro Stunde – darauf verständigte | |
| sich die große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor allem auf | |
| Druck der Sozialdemokraten. Es handelte sich um eine Abkehr von der Politik | |
| der teilweisen Deregulierung des Arbeitsmarktes, die einen breiten | |
| Niedriglohnsektor hatte entstehen lassen. | |
| Viele Leute, die in Restaurants, Geschäften, Reinigungsfirmen, | |
| Schlachthöfen, auf dem Bau oder bei Sicherheitsdiensten arbeiteten, | |
| verdienten so wenig, dass sie davon kaum leben konnten. „Damals arbeiteten | |
| mehr als 20 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor“, sagt Thorsten | |
| Schulten von der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung. Heute seien es | |
| dagegen „vielleicht noch 15 Prozent“. | |
| Der gesetzliche Mindestlohn reduzierte nicht nur die Zahl der arbeitenden | |
| Armen, sondern verringerte auch die Ungleichheit zwischen Leuten mit | |
| geringen und guten Einkommen. So sorgte er für eine höhere Zufriedenheit | |
| unter den Beschäftigten, die vom ihm profitierten, und wirkte einem | |
| verbreiteten Ungerechtigkeitsgefühl entgegen. | |
| Und die Auswirkungen auf die Zahl der Stellen war weit geringer als | |
| befürchtet. Wirtschaftsverbände und Wissenschaftler wie ifo-Chef Sinn | |
| hatten argumentiert, die höheren Arbeitskosten würden Jobs vernichten, weil | |
| die Firmen sie sich nicht mehr leisten könnten. Sie bezifferten die | |
| möglichen Verluste auf bis zu 900.000 Stellen. | |
| ## Besser bezahlte Verträge nahmen zu | |
| Tatsächlich sank zunächst etwa die Zahl der Minijobs um 150.000, | |
| andererseits nahmen im Gastgewerbe, dem Handel und anderen Branchen die | |
| besser bezahlten Verträge zu. Firmen kompensierten die Arbeitskosten | |
| beispielsweise dadurch, dass sie ihre Abläufe verbesserten, also ihre | |
| Produktivität steigerten, oder [1][die Preise der Produkte und | |
| Dienstleistungen anhoben]. | |
| Andererseits fiel die Einführung des Mindestlohns in eine Zeit, in der die | |
| hiesige Wirtschaft insgesamt gut lief. Die Unternehmen brauchten mehr | |
| Leute, nicht weniger. Noch bis vor Kurzem stieg die Zahl der Beschäftigten | |
| Jahr für Jahr auf neue Rekorde. Mittlerweile macht sich außerdem der | |
| demografisch bedingte Arbeitskräftemangel bemerkbar. Um knappes Personal zu | |
| halten und zu gewinnen, bieten die Firmen auch von sich aus [2][höhere | |
| Gehälter]. Ein steigender Mindestlohn würde zu diesem Trend passen. | |
| Parallel dazu ändert sich jedoch die wirtschaftspolitische Situation. Statt | |
| moderaten Wachstums herrscht nun Stagnation. Passt in diese Welt die | |
| Forderung der Sozialdemokraten, die Lohnuntergrenze in einem großen Schritt | |
| auf 15 Euro anzuheben? Die Mindestlohn-Kommission selbst hat für den | |
| Jahresbeginn 2025 nur ein Plus von 12,41 Euro auf 12,82 Euro festgesetzt. | |
| Die Ursache für diesen Dissens bildet ein politischer Konflikt. Seit 2015 | |
| beschloss die Kommission die Entwicklung der Lohnuntergrenze im Konsens | |
| ihrer jeweils drei Gewerkschafts- und Arbeitgebermitglieder. In dieses | |
| Verfahren grätschte 2022 aber die SPD-geführte Bundesregierung hinein und | |
| setzte eine größere Anhebung auf 12 Euro durch. | |
| ## Fragwürdige Mindestlohn-Kommission | |
| Darauf reagierte die Kommission mit zwei kleinen Schritten für 2024 und | |
| 2025, indem sich die Vorsitzende auf die Seite der Arbeitgeber stellte und | |
| die Gewerkschaften überstimmte. Seitdem fragt man sich: Wie tragfähig ist | |
| [3][diese Kommission]? | |
| Zudem beruht der politische Konflikt auf unterschiedlichen | |
| wirtschaftspolitischen Maßstäben und Einschätzungen. Die | |
| Kommissionsmehrheit verweist auf die im Gesetz verankerte Orientierung an | |
| der Entwicklung der Tariflöhne. Das schließt Sprünge auf 15 Euro, was 15 | |
| Prozent entspräche, aus. Das IAB-Institut der Bundesagentur für Arbeit | |
| erklärt: Schon bei einer Anhebung des Mindestlohns auf 14 Euro würde ein | |
| Fünftel der Betriebe Beschäftigung reduzieren. | |
| SPD und Gewerkschaften betonen dagegen eine Maßgabe der EU: Die Staaten | |
| sollen dafür sorgen, dass der nationale Mindestlohn bei 60 Prozent des | |
| mittleren Lohnniveaus liege. Das wären hierzulande über 15 Euro, hat die | |
| Hans-Böckler-Stiftung berechnet. | |
| Wie könnte eine Lösung aussehen? Die 15-Euro-Ansage von Olaf Scholz ist | |
| eine Forderung im Wahlkampf – nicht besonders realistisch. Ein | |
| Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) würde wohl nicht in diese Richtung | |
| intervenieren. Andererseits scheinen sowohl die Unternehmerverbände als | |
| auch die Gewerkschaften ein Interesse daran zu haben, den | |
| regierungsunabhängigen Einigungsmechanismus am Leben zu halten. | |
| „Die Kommission will sich stabilisieren, damit die Gewerkschaften nicht | |
| aussteigen“, sagt Böckler-Wissenschaftler Schulten. „Deswegen kann es sein, | |
| dass das 60-Prozent-Ziel der EU als ein Orientierungspunkt neben an deren | |
| akzeptiert wird.“ Die nächste Erhöhung könnte also deutlich über 13 Euro, | |
| aber deutlich [4][unter 15 Euro pro Stunde] liegen. | |
| 23 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Hannes Koch | |
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