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# taz.de -- Magdeburg nach dem Anschlag: Die Trauernde Magdeburg
> Unsere Autorin besucht jedes Jahr am Tag vor Heiligabend den Magdeburger
> Weihnachtsmarkt. Ihre Schwester entging der Katastrophe nur durch Zufall.
Bild: Magdeburg, 22. Dezember: Menschen legen Blumen und Kerzen vor dem Magdebu…
Magdeburg taz | Seit 41 Jahren fahre ich jeden 23. Dezember für zwei Nächte
nach Magdeburg, um mit der Familie Weihnachten zu feiern. Am 23. gehen
meine Schwester Nadja, die in Magdeburg zu Hause ist, und ich auf den
Weihnachtsmarkt. Es sind Routinen, die meinem unsteten Leben Struktur
geben.
Der Weihnachtsmarkt in Magdeburg ist angenehm überschaubar, nicht
übertrieben kitschig, nicht so teuer wie die Berliner Märkte, nicht
angeberisch wie die traditionelleren, die in jedem Reiseführer stehen. Es
gibt einen Mittelaltermarkt, eine Märchengasse, eine nordische Meile mit
skandinavischen Spezialitäten und viel Glühwein.
Und es gibt ein Riesenrad, von dem aus man über die ganze Stadt schauen
kann, die seit ein paar Jahren von Dezember bis Januar mit vielen LEDs
beleuchtet ist. Jede Fassade der Innenstadt leuchtet, illuminierte Figuren
und Lichtspiele beleben die Plätze. Es ist auch eine Hommage an die
verlorene Stadt von vor 100 Jahren, als der Stadtbaurat Bruno Taut die
Moderne nach Magdeburg brachte und die Fassaden der Stadt bunt anmalen
ließ.
Eine Woche vor Heiligabend war meine Schwester mit ihrer Stralsunder
Freundin über die Berliner Weihnachtsmärkte gezogen. Auf dem
Breitscheidplatz hatte die Freundin gefragt, ob Nadja bewusst sei, dass der
Weihnachtsmarkt jederzeit Ort eines Anschlags werden könne. Meine Schwester
war der Ansicht, dass ihre „Popelstädte“ Stralsund und Magdeburg kein
attraktives Attentatsziel seien. Dort seien sie sicher.
Am 20. Dezember erreichte mich um 19.52 Uhr die Nachricht einer Freundin
auf dem Handy, dass es einen Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt
gegeben habe. Ich glaubte, mich verlesen zu haben.
## Hundert Meter von der Katastrophe entfernt
Dass meine Schwester wohlbehalten blieb, hat sie vermutlich der schlechten
Laune unseres Vaters zu verdanken. Kurz vor Ladenschluss hatte sie bei
Karstadt gegenüber dem Alten Markt Hackfleisch für ihn gekauft. Weil unser
Vater am Telefon ningelte, warum sie immer noch nicht da sei, hatte sie
ihren Plan, noch schnell einen Langos auf dem Weihnachtsmarkt zu essen,
aufgegeben und war über eine ruhige Parallelstraße zu ihm gegangen. Wenig
später raste hundert Meter entfernt ein Mann mit einem SUV in die
Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt und richtete den größtmöglichen
Schaden an.
Dass sie nur durch Zufall einer Katastrophe entgangen war, wurde meiner
Schwester bewusst, als Frank Kornfeld, ein befreundeter Feuerwehrmann, sie
anrief. Sie solle bleiben, wo sie sei. Draußen vor dem Fenster tauchten
inzwischen Rettungsfahrzeuge die Nacht in blaues Licht, Hubschrauber
kreisten.
Um 19.04 Uhr war der erste Notruf eingegangen, bald kursierten im Netz
Bilder einer Überwachungskamera mit grausamen Szenen. Bald war auch klar,
dass es sich um einen Mann aus Saudi-Arabien handelte, der schon fast
zwanzig Jahre in Deutschland lebte und als Psychiater in Bernburg
arbeitete. Er war offenbar gewillt gewesen, bei seiner Amokfahrt so viele
Menschen wie möglich zu töten oder zu verletzen. Vier Frauen und ein Kind
starben. 200 Verletzte auf einmal, viele darunter schwer, das bringt jedes
noch so gut organisierte Rettungssystem an seine Grenzen.
„Das Seltsame“, sagte Frank Kornfeld ein paar Tage nach dem Einsatz, „ist
die Verschiebung der Zeit. Gefühlt dauert es Stunden, bis das System
arbeitet, dabei sind es nur Minuten. Minuten, in denen es an allem fehlt,
vor allem an genügend Verbandsmaterial.“
## Die Unmöglichkeit, das Unerklärliche zu erklären
Stunden später war klar, dass der Täter [1][in keines der üblichen Raster
von potenziellen Terroristen passt]. Diese Unmöglichkeit, das Unerklärliche
zu erklären – sie machte die Angst und Verunsicherung, sich nicht mehr auf
sicherem Grund zu befinden, noch größer.
Einen Tag später marschierten Nazis durch die Stadt und forderten
„Remigration“. Der Einwanderungsdiskurs, den fast alle politischen Parteien
in den vergangenen Wochen befeuert haben und der, auf die Substanz
heruntergebrochen, nichts weiter heißt als „Ausländer raus“, hier fiel er
einmal mehr auf fruchtbaren Boden.
Krzysztof Blau, der Integrationsbeauftragte der Stadt, hat im Fernsehen von
Übergriffen, Drohungen und Beleidigungen gegen Migrant:innen berichtet.
Das Theater an der Angel, das auf Facebook nichts weiter als ein Bild der
„Trauernden Magdeburg“ und den Satz „Soviel Wasser gibt die Elbe nicht he…
wie ich Tränen weinen möchte, jeden Tag“ gepostet hatte, konnte sich vor
Hasskommentaren nicht retten und schaltete die Kommentarfunktion ab. Das
Klinikum Magdeburg sah sich genötigt, darauf hinzuweisen, dass ohne die
Mitarbeiter:innen aus 20 Nationen der Krankenhausbetrieb gar nicht
aufrecht erhalten werden könne. Nach dem Anschlag hatten sie alle
bereitgestanden, um Menschenleben zu retten, egal, ob sie Dienst hatten
oder nicht. Offenbar passte das ein paar sehr lauten Deppen nicht.
## Ein Blumenmeer wächst
Als ich am 23. Dezember nach Magdeburg fahre, komme ich in eine
[2][gespaltene Stadt], 3.500 Menschen sind bei der Kundgebung der AfD – auf
der die Vorsitzende Alice Weidel kein Wort darüber verliert, dass der Täter
ein islamkritischer [3][Aktivist und Fan der AfD] ist. 4.000 Menschen
versammeln sich zur Lichterkette gegen Hass und Hetze um den Alten Markt.
Die Kerzen waren eigentlich für das Weihnachtssingen im Stadion gedacht,
das abgesagt wurde.
Als die Menschenkette sich langsam auflöst, gehen viele in Richtung
Johanneskirche, wo ein Meer von Blumen wächst. Viele stehen in Grüppchen
beieinander, stellen ihre Kerzen ab, lesen die Botschaften, betrachten das
Bild einer blonden Frau, das Porträt eines lachenden Jungen, beide
gestorben. Viele weinen.
Hinter dem Tor unter den Türmen im Innenraum der Kirche und von außen
unsichtbar sitzt die Trauernde Magdeburg. Eine Bronzestatue, Allegorie
dieser Stadt, die während des 30-jährigen Krieges während der sogenannten
„Magdeburger Bluthochzeit“ von 1631 vernichtet wurde. Von 35.000 Menschen,
die in der Stadt wohnten, überlebten nur 450. Das hat sich tief eingeprägt
in die DNA der Stadt und ein Wort hervorgebracht: Magdeburgisieren. Es
bezeichnet den größtmöglichen Schrecken, der einer Stadt durch Menschen
widerfahren kann.
Am Sonnabend, den 21. Dezember, hätte die Schauspielerin Ines Lacroix die
Trauernde Magdeburg spielen sollen. Ich hatte im Sommer einen Monolog für
sie geschrieben, ein Requiem gegen das Grauen der Kriege und die
Verwüstungen, die sie in den Körpern der Menschen und Städte anrichten. Der
Text ist plötzlich auf unheimliche Art aktuell. Nach dem Anschlag ist die
Aufführung abgesagt worden, wie fast alle Kulturveranstaltungen der Stadt.
## Der Anschlag ist jetzt überall
Meine Schwester, die ein Kulturzentrum leitet, ärgert sich. „Warum
überlassen wir der Kirche, der die meisten von uns nicht angehören, allein
die öffentliche Trauer? Warum werden Kulturveranstaltungen abgesagt, die
Einkaufszentren aber bleiben offen? Es braucht Zeichen für die Trauer der
Stadtgesellschaft.“
Der Anschlag ist jetzt überall. Jedes Gespräch an diesen Tagen kehrt bei
allen Versuchen auszuweichen immer wieder zu ihm zurück. Wenn Kinder sich
den Diskutierenden nähern, werden die Stimmen gedämpfter. Den Kleineren hat
man es verschwiegen, den etwas Größeren von einem Autounfall erzählt.
Am Heiligabend sind wir kurz vor Mitternacht wie jedes Jahr in der Wohnung
von Ines Lacroix, für drei von uns endet im nächsten Jahr etwas Wichtiges
im Leben und beginnt etwas Neues. Eigentlich ist da jedes unerwartete
Ereignis zu viel, das Leben ist sich selbst schon genug.
Ines Lacroix gibt das Theater an der Angel, das sie ein Vierteljahrhundert
ohne jegliche Subventionen der Stadt zusammen mit Matthias Engel auf dem
Werder in einer alten Villa geführt hat, an Jüngere ab und macht als Freie
weiter. Nadja zieht zurück auf den Werder, wo wir aufgewachsen sind, an die
Stelle, an der die Karschin dichtete und Klopstock Briefe von seiner
„Glücklichen Insel“ schrieb.
Frank Kornfeld wird Anfang nächsten Jahres in Pension gehen, dann sind 39
Jahre bei der Feuerwehr vorbei. Jahre, in denen er viel sah und manches
Unglück verarbeiten musste. Eigentlich war er sich sicher, dass die letzten
Wochen in Routine vergehen werden. Aber ausgerechnet da erlebte er den
schlimmsten Einsatz seines Berufslebens.
## Nur das Quietschen des Kinderkettenkarussels
Um Mitternacht singen wir wie jedes Jahr auf dem Balkon Weihnachtslieder.
„Oh, du fröhliche“ lassen wir diesmal weg. Das Wort froh steht in der
Abstellkammer unseres Wortschatzes. Irgendwann beschreibt Frank Kornfeld
den ersten Moment der Ruhe nach dem Anschlag, tief in der Nacht, nach
vielen Stunden rastlosen Einsatzes: Er ist allein mit einem Kollegen. Die
Leichenwagen sind gerade weggefahren, es ist im wahrsten Sinne des Wortes
totenstill auf dem Weihnachtsmarkt, nur die Sitze des
Kinderkettenkarussells quietschen leise im Wind. „Das ist ein Moment, den
ich nicht vergessen werde.“
Am nächsten Abend steht Ines Lacroix das vorletzte Mal auf den Brettern
ihrer Bühne, solo spielt sie Thornton Wilders „Das lange Weihnachtsmahl“.
Im Programmheft wird der Autor zitiert: „Auch die beunruhigendste Gegenwart
wird bald Vergangenheit sein. Das ist immerhin tröstlich.“
Ich fahre am zweiten Weihnachtsfeiertag nach Berlin zurück. Von der
Straßenbahn aus sehe ich das Blumenmeer vor der Johanniskirche, das in den
vergangenen zwei Tagen noch weiter gewachsen ist, und muss an den
Kindervers denken, den ich der Trauernden Magdeburg in den Mund gelegt habe
und der nun auf grausame Art von der Literatur den Weg zurück in die
Gegenwart gefunden hat:
„Seh ich das Bild von Machdeborch, denn zittern mich die Beene / Denn jeht
mich das so durch und durch, / denn denke ich an Machdeborch / an
Machdeborch – und weene.“
27 Dec 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Annett Gröschner
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