# taz.de -- Kurd*innen in Syrien: Tanzen oder fliehen? | |
> Die Türkei greift die kurdische Selbstverwaltung in Syrien an, mehr als | |
> hunderttausend Menschen fliehen. Was passiert in den kurdischen Gebieten? | |
Bild: Zwischen den Fronten: im Auto in Tal Rifaat | |
Ein Hochzeitssaal im Januar 2010, Hadeel Salem tanzt zur Musik. „Ich tanzte | |
zu Liedern, die nicht unserer Kultur entsprachen“, erinnert sie sich an den | |
Tag vor fast 15 Jahren. „Wir mussten kurdische Lieder mit arabischen | |
vermischen. Wir hatten Angst, vom syrischen Regime verhaftet zu werden, | |
sobald wir unsere Freude in unserer Muttersprache ausdrücken.“ | |
Salem ist Kurdin aus Nordsyrien, studierte damals in Damaskus. Als das | |
Assad-Regime am 8. Dezember vertrieben wird und endgültig fällt, erinnert | |
sich Salem an all die Angstmomente unter dem Regime. „Der Rücktritt war ein | |
historischer Tag für das syrische Volk. Insbesondere für die syrischen | |
Kurd*innen, die ihrer grundlegendsten Menschenrechte beraubt wurden, wie | |
ihre Muttersprache zu sprechen und ihre Kultur und Rituale frei zu | |
praktizieren“, sagt Salem. | |
Doch zur Hoffnung auf ein Leben in Freiheit und Würde kommt die Angst um | |
die kurdischen Gebiete. Salem hat allen Grund dazu. Während diese Woche in | |
Städten wie Aleppo, Idlib oder Damaskus gefeiert wurde, nutzte die Türkei | |
den politischen Umsturz aus, um Kurd*innen aus Nordsyrien zu vertreiben – | |
durch Luftangriffe und mit protürkischen Milizen der sogenannten Syrischen | |
Nationalen Armee (SNA), einem Verbund von 30.000 bis 80.000 bewaffneten | |
syrischen Oppositionskämpfern. „Ich frage mich, ob wir ein geeintes Syrien | |
erleben werden oder die Kämpfe sich wieder ausweiten“, sagt Salem. | |
Dutzende Zivilist*innen haben die Luftangriffe der Türkei in den | |
vergangenen Tagen getötet, darunter viele Frauen und Kinder. Beim Angriff | |
auf einen Krankenwagen in Kobanê im Norden Syriens starben vier | |
medizinische Mitarbeiter. Laut Berichten von medizinischen Organisationen | |
vor Ort, die das [1][Northeast Syria Forum (NES) koordiniert], wurden im | |
Nordosten Syriens zudem sieben medizinische Einrichtungen von türkischen | |
Angriffen getroffen. | |
## Die Türkei will die kurdische Selbstverwaltung schwächen | |
Seit 2016 kämpft die Türkei in Syrien gegen kurdische Milizen. Sie will die | |
kurdischen Kämpfer von der türkisch-syrischen Grenze verdrängen, die | |
kurdische Selbstverwaltung dort schwächen und die Gebiete entlang der | |
Grenze einnehmen – „Pufferzone“ nennt sie das. Die türkische Regierung | |
sieht die kurdischen Milizen als Ableger der kurdischen Arbeiterpartei PKK, | |
die sowohl die Türkei als auch [2][Deutschland] als Terrororganisation | |
bezeichnet. | |
Die protürkischen Kämpfer der sogenannten Syrischen Nationalen Armee (SNA) | |
waren maßgeblich an der Militäroffensive beteiligt, die das Regime von | |
Ex-Machthaber Baschar al-Assad stürzte. Der Verbund an Milizen wird von der | |
Türkei mit Waffen, Geld und militärischem Training unterstützt. „Die SNA | |
arbeitet im Interesse der Türkei und nicht im Interesse der Syrer oder der | |
Revolution“, schreibt Leila al-Shami, eine syrische | |
Menschenrechtsaktivistin. | |
Denn parallel zur Offensive gegen das Assad-Regime hat die SNA in | |
Nordwestsyrien die kurdisch selbstverwalteten Städte und Regionen Schehba, | |
Tel Rifat und Manbidsch eingenommen. Manbidsch war die letzte von den | |
kurdischen Milizen kontrollierte Stadt westlich des Flusses Euphrat. Um | |
Massaker zu verhindern, musste die kurdische Selbstverwaltung die Menschen | |
aus Schehba in Regionen östlich des Flusses Euphrat evakuieren. | |
[3][Rund 120.000 Menschen sind aus Schehba geflohen], meldet die | |
Hilfsorganisation Medico International. „Tausende waren über Tage ohne | |
Essen und mussten unter freiem Himmel campieren“, sagt Anita Starosta, | |
Medico-Sprecherin für die Türkei und Nordsyrien. „Nordostsyrien wird immer | |
wieder von der Türkei bombardiert, ein Großteil der zivilen Infrastruktur | |
ist zerstört“, so Starosta, „Wasser- und Stromversorgung sind instabil.“ | |
Die Vertriebenen benötigten Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und ein | |
Dach über dem Kopf, heißt es von der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens | |
Daanes, auch als Rojava bekannt. | |
## Auf Fahrzeuge voller Zivilist*innen sei geschossen worden | |
Vertriebene berichten von Einschüchterungen und Übergriffen auf ihrem Weg | |
von Schehba nach Nordostsyrien. „Auf der Reise drohten uns bewaffnete | |
Menschen, dass sie uns folgen würden, und beschimpften uns“, erklärte ein | |
Mann gegenüber der Organisation Ärzte ohne Grenzen. „In der Mitte der | |
Fahrt, nach Mitternacht, kam ein Konvoi von 400 oder mehr Autos. Leute mit | |
Fackeln und in Militäruniformen hielten uns an. Die Flüchtenden wurden | |
aufgefordert, ihre Telefone herauszugeben“. Wer die Menschen in | |
Militäruniformen waren, wisse er nicht, sagt der Vertriebene. Kurdische | |
Organisationen berichten von ähnlichen Fällen, [4][darunter die Vereinigung | |
von kurdischen Frauenbewegungen Kongra Star]. | |
„Die Angst vor einem neuen Schreckensregime ist groß“, heißt es von Kongra | |
Star. Auf Fahrzeuge voller Zivilist*innen sei geschossen worden, Männer | |
seien gefangen genommen worden. Bei den Tätern handelt es sich, soweit | |
ersichtlich, wohl um IS-Kämpfer und Milizen der SNA. Ob auch Kämpfer der | |
Haiat Tahrir al-Scham (HTS) dabei waren, ist unklar. Die HTS hatte die | |
Rebellenoffensive gegen das Regime angeführt und eine Übergangsregierung | |
eingesetzt. | |
„Gerade, weil wir islamisch sind, werden wir die Rechte aller Menschen und | |
aller Glaubensrichtungen in Syrien garantieren“, betonte Mohammed | |
al-Baschir, von der HTS ernannter Chef der Übergangsregierung, gegenüber | |
der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera. Al Baschir hat sich | |
bislang nicht dazu geäußert, ob er die kurdische Selbstverwaltung | |
tolerieren wird. Ein Kommandeur der kurdischen Syrischen Demokratischen | |
Kräfte (SDF) sagte, die Selbstverwaltung ihrerseits sei bereit, „mit der | |
neuen Behörde in Damaskus zu kommunizieren“. | |
Kamal Sido, Referent für Minderheiten bei der Gesellschaft für bedrohte | |
Völker, ist skeptisch gegenüber den islamistischen Milizen, auch der HTS. | |
Ein sunnitischer Islam sei Gift für die demokratische Zukunft Syriens, sagt | |
der Menschenrechtler der taz. Frauen, säkulare Kräfte sowie Minderheiten | |
wie Kurd*innen, Armenier*innen, Assyrer*innen oder | |
Aramäer*innen, Christ*innen, Jezid*innen, Drus*innen, Ismailit*innen | |
und Schiit*innen, müssten integriert werden, so Sido. Er fürchtet, „dass | |
Deutschland und die Nato sich zu sehr über die Machtübernahme der | |
islamistischen Rebellen freuen“. „Ja, es ist eine Schwächung Putins“, sa… | |
Sido, „Aber ich plädiere für Differenzierung: Der Feind meines Feindes ist | |
nicht mein Freund.“ | |
## Baerbock: „territoriale Integrität Syriens“ nicht gefährden | |
Wie es Kurd*innen und Jesid*innen unter der SNA ergeht, wissen sie | |
bereits. 2018 besetzten protürkische Milizen, darunter die SNA und auch | |
Kämpfer des IS, Afrin in Nordwestsyrien und 2019 Ras al-Ain sowie Tell | |
Abiad im Nordosten. In Afrin beschlagnahmte die SNA Grundstücke, | |
Menschenrechtsorganisationen dokumentierten Morde, Plünderungen, | |
Vertreibung, Entführungen und Vergewaltigungen. In Deutschland haben sechs | |
Überlebende im Januar Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft gegen die | |
Täter aus den Reihen der Milizen erstattet. | |
Derweil drängen die Kurd*innen darauf, dass Deutschland, die Nato und die | |
Vereinten Nationen auf die Türkei einwirken. Die UN solle Druck auf die | |
Türkei ausüben, damit sie die Angriffe stoppe, schrieb Kongra Star in einem | |
Brief an den UN-Sondergesandten für Syrien, Geir Pedersen. Deutschlands | |
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte bei der Vorstellung ihrer | |
Syrien-Diplomatie zumindest, die Türkei dürfe die „territoriale Integrität | |
Syriens“ nicht gefährden. Konsequenzen nannte sie keine. | |
Derweil wird um die Stadt Kobanê gekämpft. Von dort aus hatten kurdische | |
Kämpfer*innen 2014 den IS zurückgedrängt – unter anderem mithilfe von | |
Waffenlieferungen aus den USA, England und Deutschland. IS-Kämpfer sitzen | |
noch immer in nordsyrischen Gefängnissen, darunter auch eine | |
[5][zweistellige Zahl] deutscher Staatsangehöriger. Seit der Kampf gegen | |
den IS im Westen als beendet galt, beklagt die kurdische Selbstverwaltung, | |
dass die internationale Gemeinschaft sie mit der potentiellen | |
Radikalisierung alleine lässt. Nun warnt die Selbstverwaltung, bei | |
anhaltenden Angriffen der Türkei könne der IS erstarken. | |
Der Bundesregierung schienen diese Warnungen bisher egal zu sein. Wie am | |
Donnerstag bekannt wurde, hat sie in diesem Jahr bereits Rüstungsexporte in | |
die Türkei über 230,8 Millionen Euro genehmigt – so viel wie seit 2006 | |
nicht mehr. Erst Ende Oktober hatten deutsche Vereine wegen der türkischen | |
Kriegsverbrechen in Syrien Strafanzeige gegen türkische Politiker bei der | |
Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe gestellt. Darunter: Präsident Recep | |
Tayyip Erdoğan und Verteidigungsminister Yaşar Güler. | |
13 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/aid-agencies-northeast-sy… | |
[2] /Soziologe-ueber-deutsches-PKK-Verbot/!5970077 | |
[3] /Umsturz-in-Syrien/!6055939 | |
[4] https://womendefendrojava.net/de/2024/12/10/fact-sheet-humanitarian-crisis-… | |
[5] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/syrien-islamischer-staat-100.html | |
## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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