# taz.de -- Professorin über Gerechtigkeit: „Wissen beinhaltet westliche Üb… | |
> Die Professorin Anna-Margaretha Horatschek beschäftigt sich mit | |
> Gerechtigkeitsvorstellungen in der wissenschaftlichen Arbeit. Diese seien | |
> selten Thema. | |
Bild: Bei westlicher Forschung oft nicht einbezogen: die Bewohner*innen vor Ort… | |
taz: Wie kann Wissenschaft ein Instrument sein im Dienst globaler | |
Machtpolitik, Frau Horatschek? | |
Anna-Margaretha Horatschek: In vielerlei Hinsicht. Einmal durch den sehr | |
konkreten politischen Einfluss, den gerade westliche Wissenschaften in der | |
internationalen Politikberatung haben. Zweitens dadurch, wie Wissenschaft | |
und Forschung funktionieren, wie sie organisiert und finanziert werden. Und | |
drittens, etwas philosophischer gedacht, weil Wissen darüber | |
mitentscheidet, wie über andere Kulturen gedacht und gesprochen wird. | |
taz: Ist dann der Westen das Problem oder die Wissenschaft? | |
Horatschek: Für viele Kritiker:innen sind der Westen und das, was als | |
Wissenschaft gilt, untrennbar miteinander verbunden. Wissenschaft bietet | |
Wissen, das nach strengen Regeln produziert wird. Damit ist viel Positives | |
erreicht worden. Aber das Wissen beinhaltet häufig typisch westliche | |
Überzeugungen, über die meistens gar nicht nachgedacht wird. In der | |
Vorlesungsreihe beschäftigen wir uns zum Beispiel damit, ob westliche | |
Gerechtigkeitsvorstellungen an Gerechtigkeitsvorstellungen von anderen | |
kulturellen Traditionen überhaupt anschlusssfähig sind. Das ist besonders | |
in der Entwicklungspolitik ein wichtiges Thema. In diesem Bereich ist es | |
zum Beispiel ungerecht, wenn die betroffenen Menschen, für die Programme | |
entwickelt werden, gar nicht gehört werden. Sie müssen viel mehr in die | |
Planungen einbezogen werden, und da gibt es erst wenige Ansätze, wo das | |
gemacht wird. | |
taz: Sie beschreiben diese Phänomene anhand eines Beispiels… | |
Horatschek: Amitav Ghosh hat einen Roman geschrieben, der auf Deutsch | |
übersetzt wurde mit dem Titel [1][„Hunger der Gezeiten“]. In meinem Vortrag | |
gehe ich von diesem Roman aus, um die Ungerechtigkeit zu beschreiben, die | |
westliche Wissenschaft mitverursacht. Kurzgefasst geht es in dem Roman um | |
die Geschichte eines Massakers, das 1979 an den Bewohner:innen der | |
indischen Sundarbans verübt wurde. Dort wurde in den 1970er-Jahren von der | |
Unesco ein Tigerschutzreservat als Weltnaturerbe etabliert, das | |
international wissenschaftlich begleitet und natürlich finanziert wird. | |
Diese Maßnahme für den Artenschutz wurde dann von der Regierung als | |
Rechtfertigung benutzt um die Dalits – die Ärmsten der Armen –, die sich | |
dort angesiedelt hatten, mit militärischer Gewalt und unglaublicher | |
Brutalität zu vertreiben. Bei diesem Einsatz kamen laut inoffiziellen | |
Angaben über 4.000 Menschen ums Leben. An diesem Beispiel zeigt sich, dass | |
Konzepte für Umwelt- und Artenschutz, die im Westen entwickelt wurden, | |
katastrophal waren für die Menschen vor Ort. | |
taz: Postkolonialismus spielt insbesondere in den | |
Gesellschaftswissenschaften eine große Rolle. Geschieht da insgesamt ein | |
Umdenken? | |
Horatschek: Ich würde sagen, ja. Theoretisch werden diese Probleme seit | |
Jahren behandelt, aber in der Praxis sieht es anders aus. Es ist übrigens | |
nicht nur global ein Problem, sondern auch innerhalb von Deutschland. Wenn | |
über Migrant:innen oder bildungsferne Menschen geforscht wird, sind die | |
da häufig nur am Rande beteiligt. Es sind die Expert:innen, die Modelle | |
entwickeln, was mit diesen Menschen passiert und wie mit ihnen umgegangen | |
wird. Es gibt aber mehr Aufmerksamkeit dafür. Es ist ein Thema. | |
taz: Das heißt, Wissenschaft müsste zugänglicher werden für alle? | |
Horatschek: Auf jeden Fall. Die Übersetzungsleistung zwischen | |
[2][Wissenschaft] und [3][Öffentlichkeit] ist wichtig. Es muss | |
ausformuliert werden, wie Wissenschaft funktioniert, was die | |
unterschiedlichen Fachrichtungen leisten können – und wo ihre Grenzen sind. | |
11 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Frida Schubert | |
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