# taz.de -- Postkolonialismus: Beginn der modernen Welt | |
> Vor 70 Jahren tagte im indonesischen Bandung die erste postkoloniale | |
> Konferenz. Ihre Vision transnationaler Solidarität bleibt aktuell, gerade | |
> heute. | |
Bild: Die Konferenz in Bandung: Aus Sicht der Kolonisierten begann die neue Wel… | |
Wir begehen im Mai den 80. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus, | |
angesichts der allenthalben [1][aufkommenden neuen Faschismen] ist das ein | |
Moment besonderer Bedeutung. Mit dem Beginn einer internationalen | |
Strafgerichtsbarkeit und der Erklärung der Menschenrechte gilt die Etappe | |
seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Beginn einer globalen Ordnung, die | |
heute wieder infrage steht. Doch diese Sicht ist einäugig, denn für den | |
kolonisierten Teil der Welt bedeutete 1945 mehr Kontinuität als Bruch. | |
Europäische Staaten begingen an der Zivilbevölkerung ihrer Kolonien | |
Verbrechen, die nach den Kriterien des Nürnberger Statuts gleichfalls | |
Crimes against Humanity, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, waren. Und | |
selbst die Antigenozid-Konvention bekam nach langem Ringen einen Wortlaut, | |
der die Massentötung multiethnischer indigener Bevölkerungen nicht | |
erfasste. | |
Aus Sicht der Kolonisierten begann die neue Weltordnung nicht 1945, sondern | |
zehn Jahre später, mit der Konferenz von [2][Bandung.] Ihr Beginn am 18. | |
April 1955 jährt sich in dieser Woche. In Bandung, auf der indonesischen | |
Großinsel Java, trafen sich Delegierte aus 29 Staaten vor allem Asiens und | |
Afrikas sowie diverse Befreiungsbewegungen. Mit China und Indien als | |
Teilnehmenden repräsentierte die Konferenz fast eineinhalb Milliarden | |
Menschen, mehr als die Hälfte der damaligen Weltbevölkerung. Manche Länder | |
waren gerade erst unabhängig geworden oder kämpften noch darum. | |
Sudan hatte nicht einmal eine Fahne, eilig wurde ein Stück Stoff bestickt. | |
Charismatische Redner wie Jawaharlal Nehru, erster Ministerpräsident | |
Indiens, und Gamal Abdel Nasser, von 1952 bis 1954 ägyptischer | |
Ministerpräsident, verkündeten das Ende der kolonialen Epoche. Sukarno, | |
Indonesiens erster Präsident, sagte, die erste Konferenz ohne weiße Mächte | |
markiere „einen Neuanfang in der Geschichte der Welt“. 400 Journalisten | |
(meist Männer) kritzeln das in ihre Blöcke, manche weißen Berichterstatter | |
schnaubten. | |
## Kinder jagten nach Autogrammen | |
Bandung war damals bereits eine Stadt von einer halben Million Einwohner. | |
Ein Wald von Fahnen proklamierte die asiatisch-afrikanische Solidarität, | |
die Hauptstraße wurde Jalan Asia Afrika genannt – so heißt sie noch heute. | |
Ein Museum erinnert an die Konferenz; selbst der Starbucks gegenüber heißt | |
Asia-Afrika. Damals jagten Kinder an dieser Ecke nach Autogrammen, lauerten | |
in Scharen der ausländischen Prominenz in opulenten nationalen Gewändern | |
auf. Die wichtigste Schlussfolgerung der sechstägigen Zusammenkunft | |
lautete, dass niemand zwischen den Großmächten im neuen Ost-West-Konflikt | |
wählen müsse. Möglich sei eine „positive Neutralität“, wie Nehru es | |
ausdrückte: Es sei Raum für eine Dritte Welt. Der neue Begriff stand nicht | |
für Armut, sondern für Befreiung und Solidarität. Bandung war die Wiege der | |
Bewegung der Blockfreien Staaten. | |
Der wichtigste Augenzeugenbericht aus Bandung ist „The Colour Curtain“, das | |
Buch des Afroamerikaners Richard Wright erschien 1956. Der Schriftsteller | |
war selbst personifizierte neue Welt: Geboren auf einer Plantage in | |
Mississippi, seine Großeltern noch Versklavte, gelang ihm mit „Native Son“ | |
der erste Schwarze Bestseller. Zum Zeitpunkt von Bandung war Wright bereits | |
ein doppelt Exilierter: Wegen des Rassismus in den Vereinigten Staaten war | |
er nach Frankreich übergesiedelt, wegen des Stalinismus hatte er die | |
Kommunistische Partei verlassen. Seine Reise nach Indonesien ließ er sich | |
von einem antikommunistischen US-Fond finanzieren. Diese Details sind | |
erwähnenswert, denn Richard Wright war durchaus überrascht, wie in Bandung | |
die Erfahrung kolonialer Demütigung andere Differenzen in den Hintergrund | |
rücken ließ. Noch auf der Anreise hatte er über die spaltende Bedeutung von | |
Religionen und Ideologien nachgedacht, in Bandung notiert er dann über die | |
Delegierten: „Sie hatten alle den gleichen Hintergrund der kolonialen | |
Erfahrung, der Unterwerfung, des Color-Consciousness.“ | |
Manches von Wright wirkt nach jetziger Lesart politisch wenig korrekt. Bei | |
ihm gibt es keine aus Rücksichtnahme verschatteten Ecken wie im heutigen | |
antirassistischen und dekolonialen Schreiben. Seine Beobachtung, wie sehr | |
die indonesische Oberschicht noch in kolonialer Mentalität und in „racial | |
shame“ gefangen ist, wird seine Gastgeber später erzürnen. Ein Jahrzehnt, | |
bevor weiße US-Autoren den New Journalism erfanden, praktizierte ihn | |
Wright, mischte Literatur und Reportage selbstbewusst subjektiv. Sein | |
persönlicher Blick auf Kolonisierer und Kolonisierte ist das Maß der Dinge. | |
Der [3][afroamerikanische Philosoph Cornel West] nennt dies Wrights | |
„existenzielle Ehrlichkeit“, ohne Romantizismus, ohne Sentimentalität. | |
Für Wright ist nach der Erfahrung auf Java der Kampf um Bürgerrechte in den | |
USA untrennbar verbunden mit der Befreiung der Völker of Color, und er ist | |
nicht der Einzige: W. E. B. Du Bois, Malcolm X, Martin Luther King, Paul | |
Robeson – sie alle beziehen sich auf Bandung. Acht Monate nach der | |
Konferenz [4][weigert sich die Schwarze Rosa Parks, ihren Sitzplatz in | |
einem Linienbus für einen Weißen zu räumen] – Auftakt zum legendären | |
Busboykott von Montgomery, Alabama. Bandung hallt nach, in verflochtenen | |
Geschichten. | |
Die [5][Hoffnung auf eine postkoloniale Eigenständigkeit,] in der die | |
Länder des Südens und des Ostens einander zur Seite stehen würden, ohne | |
Hegemon, wurde im Kalten Krieg indes bald erstickt. Gleichwohl markiert | |
Bandung, in einer Wendung des belgischen Historikers David Van Reybrouck, | |
„die Entstehung der modernen Welt“, als Morgenröte menschlicher Gleichheit. | |
Im Entsetzen über Trump wird heute über den Erhalt einer regelbasierten | |
Weltordnung gesprochen, als seien deren Regeln je gleichberechtigt | |
geschrieben und angewandt worden. Bandung erzählt von einer vergangenen | |
Zukunft, von einer gültig gebliebenen Vision. | |
16 Apr 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Die-USA-unter-Trump/!6061768 | |
[2] /INDONESIEN/!467815&s=bandung&SuchRahmen=Print/ | |
[3] https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&a… | |
[4] /In-Erinnerung-an-Rosa-Parks/!5396684 | |
[5] /Entwicklungspolitik-und-Kolonialismus/!6076730 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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