# taz.de -- Roman „Früchte des Zorns“ als Hörspiel: Das Elend Amerikas | |
> Christiane Ohaus hat John Steinbecks „Früchte des Zorns“ in ein Hörspiel | |
> verwandelt. Es führt direkt ins Leid menschengemachter | |
> Umweltkatastrophen. | |
Bild: Auch in South Dakota versanken Äcker, Pflugscharen, Häuser Mitte der 19… | |
Ein Gluckern, das nach Schnapstrinken klingen soll, und ein Teppich aus | |
Grillengezirpe: So simpel können Geräusche ein Bild der Welt in den Kopf | |
pflanzen. Und dieses Bild reicht jetzt völlig als Hintergrund fürs Gespräch | |
von Gustav Peter Wöhler als Jim Casy, der eigentlich kein Prediger mehr | |
sein will, und Tom Joad, dem Ex-Häftling, gesprochen von Patrick | |
Güldenberg. | |
Der ist auf dem Weg in ein Zuhause, das es nicht mehr gibt: Landspekulanten | |
haben die infolge langanhaltender Dürre und katastrophaler Erosion | |
überschuldeten Farmen in Oklahoma plattgemacht. Die Leute [1][brechen in | |
Massen auf nach Westen, Kalifornien, wo es Arbeit geben soll]. Auch Toms | |
Familie. Am 16. November war die erste Folge des NDR-Hörspiels „Früchte des | |
Zorns“ von Christiane Ohaus ausgestrahlt worden. Sechs sind es insgesamt, | |
zwölf in der Audiothek. | |
Die Szene ist gewissermaßen untypisch. Das Hörspiel prägen aufwendig | |
collagierte Sounds, die Komponistin Stephanie Nilles tief mit dem Text | |
verwoben und subtil instrumentiert hat. Musiker Thomas Deakin setzt sie so | |
um, dass sie Dürre und Hitze direkt im Ohr erzeugen. | |
Aber in sie ragen immer mal wieder Sequenzen hinein, in denen einfache, ja | |
entschieden banale Mittel die Wirklichkeit des mittleren Westens der USA | |
der 1930er-Jahre behaupten: Dadurch lenkt nichts ab vom langsamen Dialog im | |
Schatten des Baumes am Straßenrand. | |
## Ein Werk für die Gegenwart | |
Diese virtuos eingesetzte Einfachheit entspricht dem Erzählverfahren von | |
John Steinbecks Roman „The Grapes of Wrath“. Der sollte 1939 ja wirklich | |
ein Buch für alle sein – und wurde es auch: Die Veröffentlichung war „ein | |
nationales Ereignis“, hat Literaturwissenschaftler [2][Peter Lisca schon | |
früh erkannt]. | |
Das Buch wurde öffentlich verurteilt, wurde im Radio debattiert, machte | |
Sensation in den Kino-Newsreels, also den Wochenschauen in den USA, es | |
wurde bejubelt und beschimpft, verbrannt und verschlungen. Eine halbe | |
Million Exemplare war innerhalb eines Jahres verkauft. Denn [3][dieses Buch | |
ging die Gegenwart an.] | |
Es hielt ihr Leben fest – ihre Komik auch, ihre gelegentliche | |
Lächerlichkeit, aber voll Mitleid eben vor allem ihr Elend. Das | |
funktionierte, weil Steinbeck vermochte, ihre Komplexität in den einfachen | |
Worten einfacher Leute zu erfassen und wiederzugeben. | |
Sein Erzählen schafft für sie Resonanzräume, in denen Obertöne und Tiefsinn | |
vermeintlicher Plattitüden wahrnehmbar wird. Und so setzt dann im Hörspiel, | |
und dieser Übergang ist wirklich schön, der Harmonium-Sound ein, als der | |
Ex-Prediger dem Knastheimkehrer eröffnet, dass er die jungen Frauen immer | |
als „etwas Heiliges“ empfunden habe, die er, durch sein eigenes Gebet in | |
Ekstase versetzt, nach den Gottesdiensten vergewaltigt hat. | |
Auch das Harmonium ist selbstverständlich ein akustisches Klischee: Es | |
wirkt ein bisschen sedierend. Seinetwegen trifft die Härte der Aussage das | |
Ohr verzögert und gedämpft. Zugleich macht der Sound die spirituelle Ebene | |
des Dialogs und ihren Ruin wahrnehmbar. | |
Denn Casy ist sich der eigenen moralischen Haltlosigkeit bewusst: „Ich habe | |
meine Macht missbraucht“, stellt er fest, „und das war schlecht.“ Worauf | |
die Musik im Hintergrund von der widerlich wimmernden Choralbegleitung der | |
Ersatzorgel in eine Blues-Phrase am weltlichen Klavier wechselt, bis er | |
seine Einsicht mithilfe einer selbst gebastelten Liebesphilosophie | |
verkleistert und auch das Harmonium zurückkehrt. | |
Das Grillenzirpen klingt scharf bedrohlich dagegen an. Es durchdringt | |
Trockenheit, [4][Hitze] und den staubverklebten Schweiß auf der Haut. | |
Neun Stunden hat Ohaus dem Werk Zeit gegeben. Das ist nicht zu viel. Klar | |
lassen die sich dank Audiothek selbstredend bingen. Aber es ist eigentlich | |
ganz schön, dem Ausstrahlungsrhythmus zu folgen. Das wird der Sorgfalt der | |
Produktion gerecht, die der NDR leider mit Bildern bewirbt, die aussehen, | |
als hätte der Jehovas-Zeugen-Chefgrafiker sie entworfen. | |
Sich Zeit zu lassen, ist aber auch Selbstschutz. Denn das Hörspiel geht an | |
die Nieren, gerade weil es von einem Vergangenen erzählt, das nur ein | |
Vorbote der Gegenwart ist. | |
Anders als John Fords Verfilmung, ein Klassiker auch sie, die zehn Monate | |
nach der Buchveröffentlichung Premiere feierte, überwältigt das Hörspiel | |
dabei nicht. Es hüllt stattdessen ein in die Welt des Romans. Die kann, | |
gerade weil Musik und Text hier so glücklich verschränkt sind, wunderschön | |
zärtlich sein, wenn das Buch der Schildkröte beim Überqueren der Straße | |
zuschaut. | |
## Lustig wie ein Slapstick-Film | |
Sie kann auch irre lustig klingen: Wie ein Slapstick-Film wirken, dank des | |
unterlegten Ragtime und der punktgenauen Sprecher*inneneinsätze, Hektik, | |
Geprahle und Betrügereien auf dem Gebrauchtwagen-Markt, auf dem auch | |
Familie Joad zu schmerzlich unvorteilhaftem Preis ihre Klapperkiste für den | |
Weg vom ländlichen Oklahoma nach Kalifornien erwirbt. | |
Oft aber ist diese vielfarbig tönende Welt auf kunstvolle Weise | |
unerträglich. Denn ihre Wirtschafts- und Naturordnung sind (auch) wegen | |
einer menschengemachten [5][Umweltkatastrophe] zusammengebrochen: Das | |
Präriegras der großen Ebenen Nordamerikas war beseitigt und durch | |
kurzwurzeligen Weizen und durstige Baumwolle ersetzt worden. | |
Die Folge: Eine lange Trockenperiode verwandelte jeden Wind in einen | |
Sandsturm. Landwirtschaft? Unmöglich. Rund 2,5 Millionen verarmte Farmer | |
verließen die Great Plains, die den Beinamen „Dust Bowl“ erhielten. | |
„Nach und nach verdunkelte sich der Himmel vom Staub“, heißt es im Roman, | |
und die Chronist*innen-Stimmen halten in solchen Sätzen genau die Balance | |
zwischen naturalistischer Betrachtung und visionär-biblischer Schau: „Es | |
kam die Dämmerung. Aber es kam kein Tag.“ | |
Ohaus hat die erzählerischen Passagen auf vier Stimmen verteilt, ein | |
bisschen wie die Evangelisten des Neuen Testaments: Burghart Klaußner, | |
Astrid Meyerfeldt, Werner Wölbern und Barbara Nüsse bilden ein toll | |
austariertes Quartett. Deren Wechsel machen die Facetten der Vorlage | |
hörbar. Zugleich ermöglicht Ohaus’ entschieden langsames Tempo, die 70 auf | |
49 Sprecher*innen verteilten Rollen ihrer Fassung fürs Ohr | |
unterscheidbar zu halten, bis aufs gesichtslose Personal der Angestellten, | |
der Polizisten, Wächter, Buchhalter, denen auch der Roman keine Konturen | |
gönnt. | |
Denn sie sind nur Dienstleister der Katastrophen, von der Bodenerosion über | |
die Todesfälle von Hund, Opa, Baby bis zu Flut und Dammbruch am Ende der | |
Reise im zu Unrecht gelobten Lande Kalifornien. Ihnen in ihrer | |
unerbittlichen Abfolge zuzuhören, ist eine Ohnmachtserfahrung. | |
Auch Familie Joad erlebt sie schließlich, als wären es Schicksalsschläge. | |
Dabei ist klar: Das Ganze ist zwar eine böse Sache, aber Menschen haben sie | |
gemacht, und bei Gott, es wäre etwas gewesen, „das wir ändern können“. B… | |
die Menschen, „sie können es nicht mehr kontrollieren“. | |
29 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Rueckkehr-des-Albtraums/!5684800/ | |
[2] https://www.penguinrandomhouse.com/authors/237101/peter-lisca/ | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=dVNpvOjYzSU | |
[4] /Hitze/!t5035908 | |
[5] /Umweltkatastrophe/!t5011928 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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