# taz.de -- Tauschaktion Bezahlkarte gegen Cash: Solidarität statt Schikane | |
> Markus Söder feiert die Bezahlkarte, andere sehen darin eine weitere | |
> Entrechtung von Geflüchteten. Ausgerechnet in der Heimatstadt des | |
> CSU-Politikers nutzen Aktivist*innen nun einen Trick, um die Karte zu | |
> umgehen. | |
Bild: Ein Problem der Bezahlkarte ist: Auf Flohmärkten wie hier auf dem Nürnb… | |
Nürnberg taz | Mit einem Gutschein von Lidl in der Hand läuft Ismail Sagir, | |
weiches Gesicht, schwarzes Haar, die Brückenstraße in Nürnberg hinauf. Auch | |
seine vier Freunde tragen einen Coupon über 50 Euro. Dabei gibt es in der | |
Nähe gar keinen Discounter. Sagir geht es an diesem Montagnachmittag nicht | |
um Spaghetti und Zahnpasta. Der 26-Jährige und seine Begleiter sind mit dem | |
Regionalzug eine Stunde aus ihrer Unterkunft in Bad Windsheim hergefahren, | |
um Gutscheine gegen Bargeld zu tauschen. | |
Die fünf sind Asylbewerber. Als solche bekommen sie in Bayern ihre | |
Leistungen seit dem Sommer nicht mehr auf ihr Konto überwiesen, sondern auf | |
eine Plastikkarte. Mit der aber lassen sich nur 50 Euro Bargeld im Monat | |
abheben. „Wir kommen damit nicht klar, einige Läden in Bad Windsheim | |
akzeptieren keine Karten“, sagt Sagir. Deutschland hängt am Bargeld, an | |
Asylsuchenden nicht so sehr. | |
Zahlungen an Schlepper und die Familien im Herkunftsland soll die | |
Bezahlkarte verhindern, argumentieren Grüne, FDPler, Sozial- und | |
Christdemokrat:innen. In Deutschland Schutz zu suchen soll damit weniger | |
attraktiv werden, die Karte ist nur Teil einer ganzen Reihe von | |
Asylrechtsverschärfungen. | |
Der Bund und 14 Bundesländer haben sich im November 2023 auf ein | |
entsprechendes Verfahren geeinigt, das aber nach vielen Verzögerungen noch | |
nicht bundesweit umgesetzt ist. Mecklenburg-Vorpommern ging von Anfang an | |
einen eigenen Weg. Auch Bayern. CSU-Ministerpräsident Markus Söder (CSU) | |
versprach eine Karte, die „schneller und härter“ sei als in den anderen | |
Ländern. | |
## Gutscheine gegen Bargeld | |
Doch ausgerechnet in Söders Heimatstadt Nürnberg gibt es Menschen, die mit | |
einem Trick Geflüchteten zu Bargeld verhelfen: Sie tauschen ihre Scheine | |
gegen Gutscheine, die die Asylsuchenden zuvor im Supermarkt mit ihrer | |
Bezahlkarte erworben haben. Die CSU schäumt – und droht, solche Aktionen zu | |
sanktionieren. | |
Ismail Sagirs Grüppchen steigt die Treppen zum Stadtteilzentrum „Desi“ in | |
der Nürnberger Innenstadt hinauf. 1979 haben Alternative die frühere | |
Desinfektionsanstalt besetzt, seitdem dient der Backsteinbau der | |
Jugendarbeit, Tanzkursen und einer Fahrradwerkstatt. Am Montag sind Kneipe | |
und Biergarten geschlossen, da ist jetzt wöchentlich Platz für den Tausch | |
von Gutscheinen gegen Bargeld. | |
Neben einer Handvoll Einzelpersonen ist die NSU-Aufarbeitungsinitiative | |
„Das Schweigen durchbrechen“ und die Interventionistische Linke daran | |
beteiligt, erzählt Johanna Böhm, pinkes T-Shirt, Mullet-Frisur, am Tresen | |
der Desi-Bar. Böhm arbeitet für den Bayerischen Flüchtlingsrat, hat die | |
Aktion mitorganisiert. Sie findet eine Bezahlkarte an sich gar keine | |
schlechte Sache: „Wenn sie als Girokontoersatz gedacht wäre.“ Ein Konto zu | |
eröffnen sei für Neuankommende ziemlich schwierig, da könnte eine schnelle | |
Karte helfen. Doch: „So wie die Karte jetzt läuft, ist sie diskriminierend | |
und raubt den Asylsuchenden die Freiheit.“ | |
Die Bezahlkarte ist auf 50 Euro Bargeld und einen regionalen | |
Geltungsbereich beschränkt. Was das heißt, legen die lokalen Behörden | |
unterschiedlich aus. Onlinebestellungen, Fachgeschäfte außerhalb der | |
Landkreisgrenze seien für manche Asylsuchenden, etwa in Niederbayern, nicht | |
zugänglich. Auch Überweisungen an den Handyanbieter, den Anwalt oder den | |
Sportverein erlaubt die Bezahlkarte nicht. | |
Kann Johanna Böhm verstehen, dass die demokratischen Parteien mit solchen | |
Maßnahmen der AfD das Wasser abgraben wollen? Böhm antwortet mit | |
Gegenfragen: „Ist die behauptete Unordnung im Land überhaupt da? Oder wird | |
die gemacht, um in Wahlkämpfen punkten zu können?“ Die Aktivistin will eine | |
faktenbasierte Debatte. Dass es Sozialleistungen sind, die | |
Asylbewerber:innen nach Deutschland locken, sei von der | |
Migrationsforschung gar nicht belegt. Böhm erwartet von den Parteien, den | |
positiven Blick auf Migration zu stärken. Weniger Abwehrkampf, mehr | |
Arbeitsmarktintegration. | |
## Die CSU wittert einen Skandal | |
Ismail Sagir wartet jetzt in der Schlange der Tauschwilligen. Der Kurde hat | |
in der Türkei als Techniker für Klimaanlagen und Heizungen gearbeitet, | |
bevor er sich genötigt sah, das Land zu verlassen. „Erdoğan ist ein | |
Diktator“, sagt Sagir, dann ist er an der Reihe. | |
Sechs Freiwillige sitzen in einem kahlen Raum, vor sich Laptops. Auf den | |
Webseiten von Lidl, Aldi, DM, Rewe und lassen sich Gutschein-Codes | |
überprüfen, nur Coupons von diesen Läden werden angenommen, maximal 50 Euro | |
können getauscht werden. „Damit nicht einer 400 Euro tauscht und für die | |
anderen nichts mehr da ist“, sagen die Freiwilligen. Englisch können sie, | |
Französisch, ein wenig Arabisch. Wenn das nicht reicht, hilft die | |
Übersetzungsapp auf dem Handy. Ismail Sagir tauscht seinen Lidl-Gutschein | |
ein gegen den 50-Euro-Schein, den ein Mann im gleichen Alter mitgebracht | |
hat. | |
Das ist für Winfried Bausback, Landesvorstand der Juristen in der CSU, ein | |
Skandal: „Dass demokratisch legitimierte und von der Mehrheit getragene | |
Entscheidungen unterlaufen werden, ist nicht akzeptabel“, schreibt er in | |
einer Pressemitteilung. Da dürfe man nicht tatenlos zusehen. Bausback will, | |
dass die Parlamente die Tauschaktionen als Ordnungswidrigkeit | |
sanktionieren. | |
Johanna Böhm vom Bayerischen Flüchtlingsrat ist von dieser Drohung wenig | |
beeindruckt. „Was wir machen, ist eine zivilgesellschaftliche Pflicht. | |
Nicht unsere Aktion ist rechtlich fragwürdig, sondern die Bezahlkarte.“ Mit | |
dieser Einschätzung ist Böhm nicht alleine. In Berlin, wo die Bezahlkarte | |
noch nicht eingeführt wurde, kam die Ombudsstelle gegen Diskriminierung | |
gerade erst [1][zum Ergebnis], dass eine Bargeld-Obergrenze von 50 Euro | |
Geflüchtete benachteiligen würde. | |
## Klagen gegen Bezahlkarte erfolgreich | |
Das Nürnberger Sozialgericht hat Ende Juli zwei Geflüchteten recht gegeben, | |
die gegen Einschränkungen durch die Bezahlkarte geklagt haben. In | |
Eilverfahren wies das Gericht die zuständige Kommune an, den Klagenden ihr | |
Geld künftig wieder aufs Konto zu überweisen. In ihrer Pauschalität sei die | |
Karte rechtswidrig, man müsse den Einzelfall prüfen. In einem ähnlichen | |
Fall hat das Sozialgericht Hamburg kurz vorher entschieden, dass die | |
Bargeldobergrenze von [2][50 Euro zumindest für Geflüchtete mit Kindern und | |
Schwangere] rechtswidrig sei. Die persönlichen Lebensumstände seien zu | |
berücksichtigen. Rechtskräftig sind die Entscheidungen noch nicht, Urteile, | |
die in eine andere Richtung deuten, gibt es auch. | |
Drei Frauen, die aus Westafrika stammen, kommen die Treppen zur Nürnberger | |
Desi herauf, zwei kleine Kinder haben sie dabei. Aber keine Gutscheine. | |
Eine Freiwillige erklärt auf Französisch, wie der Tausch gedacht ist, | |
zeigt, wo das nächstmögliche Geschäft liegt, in dem es Gutscheine gibt. Ob | |
die Frauen trotz der komplizierten Methode wiederkommen? | |
Dass und wie hier getauscht wird, muss sich noch rumsprechen, sagen die | |
Freiwilligen. Es ist erst der zweite Tauschtermin, es sind noch weit | |
weniger Asylsuchende als Tauschwillige, die zur Desi kommen. Darunter Maria | |
Brehm und Theresa Hulin. Die Lehramt-Studentinnen haben auf Instagram von | |
der Aktion erfahren. In Hamburg, München, Regenburg gibt es schon ähnliche | |
Tauschbörsen. | |
Sie denke an die Kinder von Asylsuchenden, die anders als andere | |
Schüler:innen vom Pausenverkauf ausgeschlossen seien, sagt Theresa | |
Hulin. Auf dem Flohmarkt sei vieles viel günstiger, sagt Maria Brehm, „da | |
kommt man mit der Bezahlkarte aber nicht weit“. Die beiden Frauen sind sich | |
einig, dass die Tauschaktion ein Tropfen auf den heißen Stein sei. „Es geht | |
uns darum, im Kleinen etwas zu tun. Besser wäre natürlich, wenn es die | |
Bezahlkarte gar nicht mehr gäbe.“ | |
## „Und die Grünen machen mit“ | |
Obwohl Bund und Länder sie schon im November 2023 beschlossen haben, gibt | |
es sie noch keineswegs überall. Das bundesweite Vergabeverfahren hat sich | |
verzögert, was die Kommunen umsetzen, kann sehr unterschiedlich aussehen. | |
Das brandenburgische Potsdam etwa will mehr Bargeld zur Verfügung stellen, | |
die dortige Stadtverordnetenversammlung schreibt in Bezug auf die | |
Sozialgerichte in Hamburg und Nürnberg: „Die Rechtsentwicklung inklusive | |
der daraus resultierenden Rechtsbindung der Kommunen bleibt abzuwarten.“ | |
Im Nürnberger Stadtteilzentrum sagt eine Tauschwillige aus der | |
Gründergeneration der Desi: „Lidl finde ich doof.“ Lieber wartet sie auf | |
Asylsuchende mit Edeka-Gutschein. Die Frau gesellt sich zu einem Bekannten, | |
der vor dem Gebäude raucht. „Bett, Brot, Seife – was soll das“, klagt sie | |
über die [3][Sanktionsrhetorik der FDP.] „Und die Grünen machen mit“, sagt | |
er. Gegen die Asylrechtsverschärfungen gebe es Ende November eine Großdemo | |
in Nürnberg, sagen beide der taz. | |
Um 19 Uhr endet die Tauschzeit, gerade noch rechtzeitig kommen die drei | |
Westafrikanerinnen zurück, lachen erleichtert. Sie bekommen ihr Bargeld, | |
die beiden Kinder ein Croissant. „À la prochaine.“ Bis nächsten Montag. | |
18 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2024/11/berlin-bezahlkarte-gefluechtet… | |
[2] /Bezahlkarte-fuer-Gefluechtete/!6022705 | |
[3] /Poesie-ueber-die-FDP/!6042071 | |
## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
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