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# taz.de -- Neues Album von The Cure: Der Mensch wächst in den Fels
> In der schwerelosen Schwermut: Robert Smith und The Cure veröffentlichen
> zu Beginn der trüben Jahreszeit das neue Album „Songs of a Lost World“.
Bild: Vom Winde verweht: Robert Smith an der Gitarre bei einem Konzert von The …
Robert Smith steht im Juli 1969 mit seinem Vater im Hof hinterm Haus in der
kleinen Ortschaft Crawley in der Grafschaft Sussex. Es ist Nacht und beide
schauen nach oben. Gerade erst hatte der US-Astronaut Neil Armstrong in
einer verrauschten Verbindung seinen Satz vom kleinen Schritt für ihn
selbst und dem riesigen Menschheitssprung zur Erde geschickt.
Dabei weiß ohnehin jeder der 500 Millionen Menschen vor den Bildschirmen,
die der Mondlandung durch Apollo 11 live im Fernsehen folgen, dass hier
Geschichte geschrieben wird. Keine 30 Jahre zuvor wütete der Zweite
Weltkrieg, jetzt in diesem historischen Moment bezwingt der Mensch das All.
Neben dem Stolz fühlen viele Menschen auch die Einsamkeit: 380.000
Kilometer weit ist Armstrong von der Erde entfernt im Weltraum; allein in
seinem klobigen Raumanzug, als er, wenige Meter von der Mondlandefähre
Eagle in einer menschenfeindlichen Umgebung seinen Fußstapfen auf den
Erdtrabanten setzt. [1][Und im Kopf des damals zehnjährigen Robert Smith
formt sich das Gefühl der eigenen Einsamkeit.]
## Alleingelassen am Songende
Es dauert ein halbes Jahrhundert, bis es der britische Popstar auf den
Punkt bringen kann. Im Jahr 2019, exakt 50 Jahre nach der Mondlandung,
wandelt Robert Smith wieder durch englische Sommernächte. Er sieht erneut
nach oben und wirft einen Blick zurück. In diesem Jahr ist er 60 geworden.
Was wurde aus dem zehnjährigen Robert von damals? Was ist passiert mit der
Welt, in der er einst groß wurde? Alles vergangen, alles verloren. „Left
alone with nothing at the end of every song.“
Die Zeile aus dem epischen „Endsong“ schließt das neue, bereits seit Langem
immer wieder angekündigte und verworfene Album namens „Songs of a Lost
World“ von Robert Smiths Band The Cure. Nun ist es seit wenigen Tagen
tatsächlich veröffentlicht. Mit Blick auf die USA wirkt die darin
vorgetragene Weltuntergangsstimmung plausibel.
Textlich spannt Robert Smith einen Bogen zum Auftaktsong „Alone“: „This is
the end of every song we sing“, verkündet er über langsam schwebenden, von
Klaviermotiven durchzogen Synthwolken. Ein Lamento, zitiert aus Ernest
Dowsons Gedicht „Dregs“ und bezogen auf die ernüchternde Einsicht: Am Ende
bleiben wir unweigerlich allein mit uns selbst.
## Vanitas-Momente und bombastische Klangkaskaden
Die Klammer dieser beiden Lieder umschließt sechs weitere. Gemeinsam bilden
sie das Werk „Songs of a Lost World“. Es handelt sich dabei schließlich um
das erste neue Cure-Album seit 2008, [2][eine samtige Sammlung
melodramatischer Vanitas-Motive, bombastischer Klang-Kaskaden und
monumentaler Rhythmen]. Aber zurück zur Mondlandung.
Die sei gewissermaßen der Höhepunkt der goldenen Nachkriegsjahre gewesen,
erklärte Smith in einem Interview. Eine von Krisen unbehelligte
Wohlstandsmehrung. Seither gehe es schrittweise wieder bergab. Was
interessant ist, schließlich trat Robert Smith in den vergangenen 45 Jahren
nicht als gesellschaftskritischer oder gar ökologischer Mahner in
Erscheinung.
Nein, er singt seit „Boys Don’t Cry“ ganz überwiegend über sich selbst.…
daher ist der Albumtitel „Songs of a Lost World“ natürlich ein
doppeldeutiger: [3][Verloren ist die jugendliche Welt des kleinen Robert
und verlustig gegangen die Unbeschwertheit eines Jahr für Jahr
komfortableren westlichen Lebens].
## Immer weiter bergab
Während es mit der Welt tatsächlich immer weiter bergab geht, läuft es für
Smith und The Cure prächtig. Wie viele Bands können ihr Publikum schon 16
Jahre auf ein neues Werk warten lassen und trotzdem regelmäßig ausverkaufte
Konzerte spielen? Die nachsichtige Hörerschaft wird ihrem Helden die
Selbstbezogenheit nicht nur verzeihen, sie erwartet gar nichts anderes.
Der Erfolg von The Cure fußt zum Großteil auf dem emotionalen
Stellvertreterangebot ihres Sängers. Seine Schwermut ist ihre. Das ist
schon so, seit die Band Anfang der 1980er mit Alben wie „17 Seconds“ und
„Faith“ einen Stil entwarf, der sich musikalisch und textlich an den
schwermütigen Schattenrändern von Pop und Postpunk herumdrückte.
Die Binnensicht ist inzwischen gelernt. Wie sonst kann man im dritten Jahr
des wesentlich mit Drohnen geführten Ukrainekriegs einen Song
„Drone:NoDrone“ nennen und erklären, dass er von dieser nervigen
Kameradrohne handle, die über seinem englischen Garten surrte und Robert
Smith „wirklich wütend“ gemacht hat? Nein, auch auf dem 14. Cure-Album
werden keine weltpolitischen Bretter gebohrt. Es geht um höchst Privates.
## Düstere Seiten des Lebens
Schon 2019 verlautbarte Smith, Songtexte und Musik des anstehenden Albums
seien geformt von den düsteren Seiten des Lebens. Innerhalb relativ kurzer
Zeit hatte er Vater, Mutter und Bruder verloren. Inzwischen sind auch die
verbleibenden Onkel und Tanten gestorben. Smiths Verlustschmerzen, auf
„Disintegration“ 1989 noch etwas überzogen aus dem Ende seiner 20er
gezogen, sind diesmal weit plausibler.
Bereits das Cover sieht düster aus. Es zeigt eine 1975 entstandene Skulptur
des slowenischen Bildhauers Janez Pirnat: ein halbes Gesicht – grobporig,
konturarm, maskenhaft –, das aus einem nahezu unbehauen wirkenden Stück
Fels ragt. Wächst hier der Mensch aus dem Stein, oder ist es doch
umgekehrt? Das harte Licht und der schwarze Hintergrund der
Coverinszenierung versetzen das Stück in den Weltraum.
Ein Stück extraterrestrische Einsamkeit bei der Menschwerdung. Während die
Welt 2019 anlässlich des Jubiläums noch mal des ersten Mannes auf dem Mond
gedachte, wuchs bei Robert Smith schon lange der Mond im Mann. „Songs from
the Moon“ sollte das Album eine Weile heißen.
## Emotionales Herzstück
Von verringerter Anziehungskraft zeugen dann auch die nahezu schwerelos
schwebenden Soundscapes in den Songs. Zu denen gehört auch das emotionale
Herzstück des Albums, „I Can Never Say Goodbye“. Ein Stück über Robert
Smiths 13 Jahre älteren Bruders Richard, der ihn früh musikalisch
beeinflusst und 2017 unerwartet stirbt.
Geschrieben um ein schlichtes Klavierthema trägt es wie auch „Alone“ mehr
durch eine intensive Atmosphäre denn einen starken Song. Aber es sticht
heraus durch Smiths ungeschützten, aufgekratzten Gesang und
„Macbeth“-Zitate. „Something wicked this way comes.“
Ja, es ist düster dieses Album, aber es klingt nicht böse. Auch nicht
beklemmend wie „Pornography“, der Höhepunkt der Cure-Diskografie in den
1980ern. „Songs from a Lost World“ hat ein Herz, ein verwundetes zwar, aber
doch ein fühlendes. Was sich nirgends schöner zeigt als in „A Fragile
Thing“, dem typischsten Cure-Song des Albums und zusammen mit „All I Ever
Am“ der einzige mit annäherndem Hit-Potenzial.
Um Hits geht es Robert Smith nicht mehr. Er scheint sich mehr Gedanken um
einen würdigen Abgang von der Bühne zu machen. 2019, 40 Jahre nach dem
Debütalbum „Three Imaginary Boys“, war er fast so weit. Aber dann kamen all
die Headliner-Angebote von großen Festivals, er hatte Spaß auf der Bühne
und das mögliche finale Album wurde und wurde einfach nicht fertig. Jetzt
peilt er 2029 an. Dann, mit 70 und dem 50. Jubiläum, sei es auch mal genug.
Gut möglich, dass sein Publikum dann „I Can Never Say Goodbye“ als Zugabe
fordert.
7 Nov 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Gregor Kessler
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