# taz.de -- Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen: „Die Selbstzweifel sind g… | |
> 5,5 Millionen Menschen beziehen Bürgergeld. Sehr viele wollen arbeiten. | |
> Fünf Menschen erzählen, wie sie das Klischee vom faulen Arbeitslosen | |
> trifft. | |
Ich bin gelernter Elektroinstallateur. Ende der 90er Jahre habe ich dann | |
bei der Bundeswehr eine Ausbildung zum Fluggerätemechaniker gemacht und bin | |
in die Luftfahrtbranche gekommen. Als Leiharbeitskraft habe ich für Airbus | |
in Hamburg und Toulouse gearbeitet. 2014 habe ich mein Studium zum | |
Luftfahrttechniker begonnen – ich wollte mich weiter qualifizieren, wollte | |
nicht mehr selbst schrauben. Im März 2018 bin ich nach Berlin gezogen, weil | |
ich eine Arbeit bei Bombardier in der Fertigungssteuerung bekommen habe. | |
Mein letzter Job war dann bei Siemens Energy als Materialdisponent. Die | |
Stelle war befristet. | |
Als mir Ende 2022 gekündigt wurde, habe ich beschlossen, dass ich nicht | |
mehr in der Industrie arbeiten möchte: Ich möchte nicht mehr nachts | |
aufstehen, um arbeiten zu gehen. Ab August 2023 habe ich eine Schulung als | |
Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung gemacht. In dieser | |
siebenmonatigen Weiterbildung habe ich weiter Arbeitslosengeld bekommen. | |
Eigentlich bekommt man für ein Jahr Arbeitslosengeld. Wegen der | |
Weiterbildung habe ich aber für ein Jahr und sieben Monate Geld bekommen, | |
bis Juni 2024. Danach habe ich Bürgergeld beantragt. Der Antrag muss immer | |
vor Beginn des Bürgergeldanspruchs gestellt werden, also nicht rückwirkend. | |
Für mich war es am schwierigsten, alle Dokumente zusammenzusuchen, die das | |
Amt sehen möchte. Es gibt mindestens eine Bearbeitungszeit von zehn | |
Werktagen. Wenn ein Dokument fehlt, dann beginnt die Bearbeitungszeit von | |
vorn. Das hat dazu geführt, dass ich immer noch kein Bürgergeld bekommen | |
habe. Ich habe dem Jobcenter gesagt, dass ich in einer Notlage bin, weil | |
ich die Miete für den nächsten Monat nicht zahlen kann. Aber eine Notlage | |
besteht laut Amt nur dann, wenn ich kein Essen mehr kaufen kann. Ich musste | |
mir Geld von meinem Vater leihen. Ich habe das Gefühl, dass Menschen, die | |
aus dem Ausland nach Deutschland kommen, schneller Hilfe bekommen – das | |
kann nicht sein. | |
Vor ein paar Wochen hat das Jobcenter einen Nachweis über meine private | |
Altersvorsorge angefordert. Dem Staat wäre es am liebsten, dass man von dem | |
Geld aus der Versicherung lebt. Aber dafür habe ich nicht 20 Jahre gespart, | |
Monat für Monat. Hätte ich Geld auf der hohen Kante oder wenn ich einen | |
Sportwagen fahren würde, dann würde ich das verstehen. | |
Ich hoffe, dass ich schnell eine neue Arbeit in der Verwaltung finde. Ich | |
habe viele Bewerbungen laufen. Aber bis ich eine neue Stelle finde, bin ich | |
auf das Bürgergeld angewiesen. Dass ich mir Geld leihen musste, um meine | |
Miete zu zahlen und Essen zu kaufen, ist ein mieses Gefühl. | |
Ich bekomme die Diskussionen darüber mit, ob es das Bürgergeld weiter geben | |
sollte, und darüber, dass angeblich viele Bürgergeldempfänger faul sind. | |
Bei meinem letzten Job hatte ich einen Arbeitsweg von 75 Minuten. Noch | |
länger zu fahren, jeden Tag drei Stunden zu pendeln – das kann ich mir | |
nicht vorstellen. | |
Matteo Köchel (Name geändert) ist 50 Jahre alt und lebt in Berlin. Er hat | |
im Juni 2024 Bürgergeld beantragt und bis Mitte September kein Geld vom | |
Jobcenter erhalten. Mittlerweile bekommt er Bürgergeld. | |
## „Ich wünsche mir, unabhängig zu werden“ | |
Ich bekomme seit sieben Jahren Bürgergeld beziehungsweise Hartz IV. Ich bin | |
sehr dankbar, dass der Staat mich unterstützt, aber ich wünsche mir auch, | |
unabhängig zu werden. Meine Kinder sind sieben und dreieinhalb Jahre alt. | |
Dieses Jahr habe ich eine Ausbildung zur Erzieherin begonnen. Das Geld, das | |
ich in der Ausbildung verdiene, wird mit dem Bürgergeld verrechnet. Ich | |
bekomme also zwar nicht mehr Geld als vor der Ausbildung, aber es | |
ermöglicht mir den Weg hin zur Unabhängigkeit. | |
Von Juli bis Ende September habe ich kein Bürgergeld bekommen, weil meine | |
Aufenthaltserlaubnis in Deutschland ausgelaufen war. Ich hätte mich früher | |
um einen Termin bei der Ausländerbehörde kümmern müssen. Ich habe nicht | |
damit gerechnet, dass ich drei Monate auf einen Termin warten muss. Im | |
August kündigte mein Vermieter den Mietvertrag. Ich wusste nicht, dass das | |
Jobcenter die Miete nicht mehr gezahlt hatte. Vielleicht habe ich etwas | |
übersehen – auf jeden Fall habe ich dann beim Jobcenter angerufen. Die | |
haben mir gesagt, dass ich eine Fiktionsbescheinigung hätte vorlegen | |
müssen, also einen Nachweis darüber, dass ich einen vorläufigen | |
Aufenthaltstitel habe. | |
Jetzt habe ich bei der Ausländerbehörde meinen Aufenthalt verlängert und | |
beim Jobcenter meine Unterlagen eingereicht. Um die Miete zu zahlen, musste | |
ich mir Geld von Freunden leihen. Ende September wurde mein Bürgergeld dann | |
rückwirkend ausgezahlt. Ich hoffe, dass ich durch die Ausbildung bald | |
unabhängig werde und nicht länger auf Hilfe angewiesen bin. | |
Marta Schmidt (Name geändert), 42. Vor acht Jahren ist sie aus Mosambik zu | |
ihrem damaligen Partner nach Deutschland gezogen. Sie ist alleinerziehend | |
und lebt mit ihren zwei Kindern in Hagen, NRW. | |
## „Meine Ausbildung wurde nicht anerkannt“ | |
Ich bin gelernte Lebensmittelingenieurin. In diesem Bereich habe ich 16 | |
Jahre in der Ukraine gearbeitet. Mein großer Wunsch ist es, wieder in | |
dieser Branche zu arbeiten. Im Sommer 2022 habe ich meine Zeugnisse zur | |
Anerkennung eingereicht. Es hat fast ein Jahr gedauert: Die Ausbildung als | |
Ingenieurin wurde hier nicht anerkannt, aber ich könnte als | |
Lebensmitteltechnikerin arbeiten. Das Jobcenter hat mir erklärt, dass ich | |
[1][dafür fließend Deutsch sprechen muss]. Also auf dem Level C1. Dafür | |
mache ich gerade einen Sprachkurs. Als Lebensmitteltechnikerin muss man | |
viel dokumentieren, ich muss die verschiedenen Fachbegriffe kennen. | |
Bevor ich hierhergeflohen bin, konnte ich kein Wort Deutsch. Ich habe schon | |
mehrere Kurse gemacht und ein B2-Niveau erreicht. Zwischenzeitlich habe ich | |
in einer Schule als Köchin gearbeitet. Leider habe ich dort Mobbing erlebt | |
und wieder gekündigt. Zuerst wollte mir das Jobcenter deshalb das | |
Bürgergeld für drei Monate streichen. Zum Glück konnte ich erklären, wie es | |
zu der Kündigung gekommen war, und ich bekomme weiterhin Bürgergeld. Meine | |
Beraterin beim Jobcenter ist sehr lieb. Sie hat mich unterstützt. | |
Die Debatten darüber, dass Ukrainer kein Bürgergeld mehr bekommen sollen, | |
verstehe ich gut. Deutschland hat schon so viel für uns getan und es sind | |
mehr als zwei Jahre vergangen. Wir müssen arbeiten. Mir wurde auch | |
angeboten, eine Ausbildung zu machen. Das ist natürlich eine Chance, aber | |
ich möchte in meinem alten Job weiterarbeiten. Das Geld ist knapp. Alles | |
wird teurer. Aber ich bin dankbar, dass wir überhaupt Geld bekommen. | |
Aleksandra Kovalenko (Name geändert), 35. Sie ist im März 2022 wegen des | |
russischen Angriffskrieges mit ihren zwei Kindern aus der Ukraine nach | |
Deutschland geflohen. Später kam auch ihr Mann nach Deutschland. Jetzt | |
leben sie gemeinsam in Leipzig. | |
## „Mein Bekannter glaubt, ich bin faul“ | |
Schon während der Schulzeit und dann nach dem Abitur habe ich im Vertrieb | |
gearbeitet. Später bin ich ins Marketing gewechselt und war dort drei Jahre | |
angestellt. Ich habe in dieser Zeit gemerkt, dass ich mich selbstständig | |
machen möchte, habe mich weitergebildet und Aufträge angenommen. Dann bin | |
ich schwanger geworden. Nach der Geburt meiner Tochter hatte ich einen | |
Kunden, der viel Verständnis für meine Situation als Alleinerziehende | |
hatte. Es lief gut. Aber ich habe verpasst, mich in dieser Zeit um neue | |
Projekte zu kümmern. Das heißt: Ich habe mir immer erst neue Kunden | |
gesucht, wenn ich ein Projekt abgeschlossen hatte. Das hat lange gut | |
funktioniert, aber es gab auch Nullmonate, in denen ich meine Rücklagen | |
anbrechen musste. Meine Tochter war mehrere Monate krank und ich konnte nur | |
nachts arbeiten. | |
2023 konnte ich dem Druck nicht mehr standhalten. Ich habe sieben Tage die | |
Woche versucht, hinterherzukommen. Irgendwann war ich wie blockiert und | |
hatte keine Einnahmen mehr. Die Selbstzweifel sind gewachsen. An meinem 30. | |
Geburtstag waren meine Dispos überzogen und ich hatte die Wahl, ob ich die | |
Miete überweise oder ob ich Lebensmittel kaufe. Dieses Gefühl, „ich muss ja | |
nur ein paar Kunden gewinnen und dann läuft es ja auch wieder“, das war | |
ganz gefährlich. Da war das Loch schon zu groß – und ich war schon zu | |
erschöpft. Ich hatte Panikattacken. Ich hätte mir viel früher Hilfe suchen | |
müssen, hatte aber große Angst, meine Selbstständigkeit aufzugeben. | |
Ich wusste damals nicht, dass Selbstständige Bürgergeld beziehen können. | |
Vor einem Jahr war ich bei einer Beratungsstelle für Selbstständige. Als | |
Selbstständige Bürgergeld zu beantragen, ist mit vielen Formularen und | |
Anträgen verbunden. Man muss die Einnahmen und Ausgaben für die nächsten | |
sechs Monate genau prognostizieren und abschließend innerhalb einer kurzen | |
Frist alles sehr detailliert nachweisen. Der Berater hat mir geholfen, | |
Bürgergeld zu beantragen. Das Jobcenter hat mir sehr schnell geholfen und | |
hat meine Miete bezahlt. Dass es das Bürgergeld für Selbstständige gibt, | |
hat mir geholfen, mein finanzielles Chaos aufzuräumen. | |
Ich habe einen Bekannten, der glaubt, dass ich den ganzen Tag auf der | |
faulen Haut liege. Mir ist bewusst, dass ich gerade viel Geld vom Staat | |
bekomme, und ich bin auch dankbar dafür, aber ich beziehe nur Bürgergeld, | |
weil es in meiner Situation gerade nicht anders geht. | |
Ich mag es, zu arbeiten. Ich habe mit 15 Jahren angefangen, zu kellnern. | |
Und es war mir immer wichtig, unabhängig zu sein. Und auch jetzt habe ich | |
bis zur Geburt meines zweiten Kindes gearbeitet. Das hätte ich nicht | |
gemusst. Denn das, was ich verdiene, wird sowieso angerechnet. Von dem | |
Geld, das ich erarbeite, sind 100 Euro anrechnungsfrei. Von allen Einnahmen | |
zwischen 100 bis 520 Euro darf ich 20 Prozent behalten. Ich habe nicht | |
wirklich einen finanziellen Vorteil daraus, weiter zu arbeiten. Aber ich | |
will aus dem Bürgergeld raus und bin überzeugt, dass für mich nur die | |
Selbstständigkeit langfristig infrage kommt. | |
Scheitern gehört zum Leben dazu, dafür muss sich keiner schämen. Das | |
Bürgergeld gibt mir eine gewisse Sicherheit. Ausruhen kann ich mich darauf | |
aber nicht. | |
Hannah Ude (Name geändert). 31. Sie wohnt in Hamburg und ist | |
alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Die Soloselbstständige bezieht | |
seit einem Jahr Bürgergeld. | |
## „Viele haben ein schlimmes Bild von uns“ | |
Ich habe eine Ausbildung zum Umweltschutztechnischen Assistenten gemacht: | |
Das ist eine Mischung aus Biologie, Chemie und Physik. Ich habe in einer | |
Zeitarbeitsfirma angefangen. Kurze Zeit später ist meine Mutter und danach | |
meine Schwester an Krebs erkrankt. Mein Vater ist 2006 an Krebs gestorben. | |
Das hat Erinnerungen hervorgerufen. Es war zu viel für mich. Ich war dann | |
in psychischer Behandlung und bekomme seitdem Sozialleistungen. Meine | |
Mutter und mein Stiefvater haben ein Kind bekommen, das an einer | |
unheilbaren Nervenkrankheit leidet. Es kam immer etwas Neues. | |
Als ich in Therapie war und auf dem aufsteigenden Ast, hat das Jobcenter | |
versucht, mir neue Optionen aufzuzeigen. Mit meiner Ausbildung war es | |
schwierig, Arbeit zu finden, weil ich auf keinen Bereich spezialisiert bin. | |
Das Jobcenter hat mit mir geschaut, welche Möglichkeiten zur Umschulung ich | |
habe. Die Mitarbeiter dort haben wirklich versucht, mich zu fördern, wo sie | |
nur konnten. Sie meinten, dass ich etwas auf dem Kasten habe, und haben | |
gesagt: „Komm, lass uns das angehen, damit du da wieder rauskommst.“ Ich | |
habe es leider nicht aus der Depression geschafft. | |
Das Jobcenter hat immer wieder Verständnis gezeigt: Wenn ich es nicht | |
geschafft habe, rauszugehen, und Bescheid gegeben habe, dass ich | |
Angstschübe bekomme, hat die Mitarbeiterin darauf Rücksicht genommen. Sie | |
hat den Termin verschoben oder wir haben stattdessen telefoniert. | |
Ich wurde noch nie vom Jobcenter sanktioniert. Viel schlimmer finde ich das | |
Bild, das viele Menschen von Bürgergeldempfängern haben. Das Bild, das im | |
„Asi-TV“, wie ich es gerne nenne, bei RTL und Co., gezeigt wird, formt das | |
Bild vieler Menschen. Sie denken, dass Menschen wie ich gerne auf Kosten | |
von Vater Staat leben. Wenn ich es schaffe, engagiere ich mich bei einem | |
Verein in Duisburg, der Menschen hilft, die noch weniger haben als ich. | |
Dort fragt niemand nach, dort werde ich akzeptiert. Ich will gerne wieder | |
arbeiten. Aber das ist momentan nicht möglich. Momentan versuche ich, einen | |
neuen Therapieplatz zu bekommen. Aber es ist schwierig. Alle sind voll. Ich | |
stehe auf Wartelisten. | |
Daniel Häuser (Name geändert), 32. Aufgrund einer Depression kann er nicht | |
arbeiten. Er bezieht seit zehn Jahren Sozialleistungen und wohnt in | |
Duisburg, NRW. | |
13 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Marie Sophie Hübner | |
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