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# taz.de -- Die Wahrheit: Mit Volldampf in die Zukunft
> Zweigschläge vom Zugbegleiter: Quer durch Deutschland unterwegs mit dem
> opulent bestückten Versuchszug der Deutschen Bahn.
Hyvää päivää! Hyvää päivää!“ – anders als das Handtuch um seine d…
normal uniformierte Taille sitzt Zugbegleiter Michael Wedekings authentisch
finnische Begrüßung noch nicht perfekt. Aber für jetzt muss es auch so
gehen: Er greift den bereitliegenden Birkenquast und schlüpft mit uns
gemeinsam schnell durch die Tür. Schon stehen wir mitten im Saunawagen, dem
ersten Abteil des neuen Versuchszugs der Deutschen Bahn.
Hier testet das Unternehmen Ideen, die das Bahnfahren in Zeiten ständiger
Verspätungen und ausfallender Züge wieder attraktiv machen sollen – aus
Gründen der Kosteneffizienz alle gleichzeitig. Sehen können wir davon
aktuell wenig, weil sich die Bahn eine moderne Dampfsauna geleistet hat.
Die zufriedenen Kunden lassen sich aber vermuten: Wedeking wird für seine
nur scheinbar wahllosen Birkenquastschläge nach links und rechts in den
Dampf meist mit genießerischem Stöhnen belohnt.
„Kaffee? Cappuccino? Isodrinks?“, ruft er zwischendurch immer wieder aus,
während wir uns vorsichtig im Dampf nach vorn tastend unseren Weg durch den
Waggon bahnen. Am Ende gönnt er den Fahrgästen noch einen ordentlichen
Aufguss. Erkennen können wir ihn dabei kaum, dafür fällt uns aber das Auge
fürs Detail in diesem Zug auf: Entsprechend ihres
Nachhaltigkeitsversprechens wurde der Saunaaufguss ausschließlich aus
Nadelbäumen gewonnen, die für Neubaustrecken gefällt werden mussten.
Zufrieden und entspannt ob unserer tiefen Einblicke in das, was sich die
Bahn in Zukunft deutschlandweit unter Kundenzufriedenheit vorstellen kann,
verlassen wir das Abteil wieder. „So, geschafft!“, seufzt Wedeking
erleichtert, für den dieser Job im erst seit wenigen Wochen in Betrieb
befindlichen Zug ebenfalls recht neu ist.
Was nicht heißt, dass er ihn langsam angeht. „In den kommenden Waggons
werden Sie sich ein Bild davon machen können, welche Zielgruppen wir noch
im Blick haben“, zieht uns Wedeking weiter. Tatsächlich bietet sich im
nächsten Abteil ein ganz anderes Bild als eben: Menschen in Smokings
genießen im Kulturzug „Zu(g)kunft.In.Bewegung“.
Das können Theateraufführungen sein, momentan aber lauschen in einer Ecke
junge, mit Pailletten beklebte Frauen gerade beseelt einem Konzert von
Taylor Swift. Hier werden wirklich keine Kosten und Mühen gescheut, die
Bahn meint es ernst mit der Kundenzufriedenheit.
„Und wenn sich mal wieder jemand aus dem Saunawagen hierher verirrt, dann
bieten wir eben spontan Aktmalerei an“, erklärt uns Wedeking stolz. Als er
jedoch merkt, dass uns die nebenbei stattfindende Trapezshow in luftigen
anderthalb Metern Höhe nicht wirklich von den auch als Sitzen genutzten
Stand-up-Hockern haut, zieht er uns lieber weiter.
Schon beim Anblick der ungewöhnlich kleinen und bunten Toilettenkabinen
zwischen den Abteilen wissen wir genau, was jetzt kommt. Der
ohrenbetäubende Lärm lässt dann keinen Zweifel mehr: „Jetzt!“, schreit
Wedeking, „kommen wir zur ‚Kita Ruhewagen‘!“ Das sei leider kein Witz,
sondern einer der wenigen Fehler bei der Planung: Alle Waggons dienen
selbstverständlich auch der Personenbeförderung, zufällig wurden eben Kita
und Ruhewagen zusammengelegt.
## Ab und an pikierte FAZ-Leser
Die Kinder scheint das kaum zu stören, und auch die bebrillten FAZ-Leser
rümpfen nur ab und an pikiert die Nase, wenn ihnen von der Gepäckablage mal
wieder ein unerklärlicherweise schlammiger Schuh in den Nacken klatscht. Am
beliebtesten sei der Kita-Waggon allerdings bei den Eltern, ruft uns
Wedeking zu, während er durch den Seilgarten in den nächsten Wagen
klettert. „Wo gibt es das sonst, ein Kind, das Sie am Ende des Tages
abholt?“
Die Unterhaltung der Kinder sei jedoch kein außerplanmäßiger Halt, auch für
Erwachsene gäbe es reichlich Entertainment. Kurz darauf können wir uns
fröhlich jauchzend selbst davon überzeugen: Im nächsten Wagen finden sich
Escape-Room, Jump House, sogar Schwarzlicht-Minigolf wird wieder angeboten,
seit das zu Beginn noch verfügbare und direkt nebenan befindliche
Bordbordell abgeschafft wurde.
„Dank eines Sponsorings von Tipico können Sie im 18+-Bereich sogar auf
Verspätungen wetten“, führt Wedeking aus. Sehr clever, wie die Bahn hier
aus der Not eine Tugend macht. Beim Verlassen des Entertainmentwaggons
kommen wir an einem einzelnen, immer reservierten Platz vorbei, neben dem
seit Stunden ein junger Mann selig auf seinem Koffer sitzt und den
immersiven Trainride-Simulator zockt.
„Trotzdem ist der Versuchszug natürlich noch Work in Progress“, wirft
Wedeking entschuldigend ein, als wir durch einige Abteile streifen, in
denen nur normale Sitze vorhanden sind. Geplant seien unter anderem ein
Fitness- und ein Mittelaltermarktwagen. Ein Safariwagen mit Option auf
Großwildjagd erwies sich als nicht nachhaltig, der einzig jagbare Elefant
sei in Wuppertal aus dem Zug gesprungen. So ein Fauxpas solle nicht noch
ein drittes Mal passieren. Die Diskussion um einen Gefängniswagen hingegen
finde bei der Fokusgruppe einfach keinen Ausgang.
## Führerstand nebst Demokratielabor
Zu guter Letzt führt uns Wedeking in das Herzstück des Zugs: den
Führerstand, in dem ein Demokratielabor mit angeschlossenem Bürgerrat alle
den Zug betreffenden Entscheidungen nach Mehrheitsprinzip fällt. Hier hat
jeder Passagier eine Stimme. Um Bundesdeutschland realistisch abzubilden,
erhält man mit Erste-Klasse-Ticket allerdings zwei. Bahnbrechende
Neuerungen seien derzeit noch in der Abstimmung, lediglich die
basisdemokratische Wahl des Lokführers ab 2033 ist bereits beschlossen.
Als der Zug nach etlichen Stunden dann erstmalig hält – der Bürgerrat hatte
ständig auf halber Strecke das Ziel geändert – verabschieden wir uns lieber
schnell von Zugbegleiter Wedeking und verlassen das Wunderwerk der
Versuchsanordnung. Leider nur, um festzustellen, im Versuchsbahnhof Stendal
gelandet zu sein. Wirsch wimmeln wir alle Angebote ab, beim Umsteigen
schnell unseren Perso verlängern oder eine Botoxbehandlung machen zu lassen
und steigen für die Rückreise doch lieber auf einen privaten Bahnanbieter
um. Der hat für Sperenzchen wie Reisequalität und Kundenzufriedenheit zum
Glück so gar nichts übrig.
9 Nov 2024
## AUTOREN
Ernst Jordan
## TAGS
Wahrheit
Deutsche Bahn
Zug
Volker Wissing
Sauna
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