| # taz.de -- Skandalfilm „Caligula“ wieder im Kino: Der Kaiser ist nackt | |
| > Der Skandalfilm „Caligula“ von Tinto Brass kommt wieder ins Kino. Der | |
| > „Ultimate Cut“ aus bisher ungenutztem Material wirft neue Fragen auf. | |
| Bild: Kaisermassage: Caligula (Malcolm McDowell) und Caesonia (Helen Mirren) | |
| Nein, man muss diesen Film nicht gesehen haben. Und ja, es kann immer noch | |
| ergiebig sein, darüber zu lesen. Denn obwohl „Caligula“ schon 45 Jahre alt | |
| ist, gibt es Neues zu berichten. Jedenfalls über die Fassung, die dieser | |
| Tage im Kino anläuft. Der Titel „Caligula – The Ultimate Cut“ verspricht | |
| dabei das letzte Wort in der Sache, die Kontroverse um den Film, den der | |
| Filmkritiker Roger Ebert seinerzeit als „schamlosen Müll“ adelte, dürfte | |
| damit jedoch nicht beendet sein. | |
| Ein Regisseur und ein Drehbuchautor, die sich während der Arbeit am Film | |
| überwerfen und am Ende nicht mehr als solche in den Titeln auftauchen; ein | |
| Filmkomponist, der bloß unter Pseudonym genannt werden möchte; und ein | |
| Produzent, der den Schnitt an sich reißt und zusätzliche Pornoszenen dreht, | |
| die er ohne Rücksprache mit dem Regisseur ergänzt. | |
| Von überhöhten Produktionskosten, Zeitdruck und Arbeitsunfällen ganz zu | |
| schweigen. „Caligula“, der Film, der 1979 in die Kinos kam und sehr bald | |
| wieder aus ihnen verschwand, weil er in vielen Ländern indiziert wurde, | |
| scheint den Beteiligten nicht sonderlich gutgetan zu haben. | |
| Dem Publikum tat er im Übrigen auch nicht unbedingt gut. Sowohl Kritiker | |
| als auch Zuschauer zeigten sich empört, nachdem sie diesen monumentalen | |
| Sandalenfilm über den römischen Kaiser Caligula mit diversen expliziten | |
| Sex- und Gewaltszenen angeschaut hatten. Mit den Orgien und der Tyrannei | |
| war dies für einige des Deftigen zu viel. | |
| ## Zusammenarbeit mit Umberto Eco und Hellen Mirren | |
| Liest man sich die Liste der Beteiligten durch, mag das erstaunen. Der | |
| Regisseur Tinto Brass hatte seine Karriere als respektierter | |
| Avantgardefilmer begonnen, seine Filme liefen teils auf der Berlinale und | |
| in Venedig, Umberto Eco arbeitete mit ihm zusammen. Mit „Salon Kitty“ von | |
| 1975 hatte er andererseits schon mal einen Erotikfilm gedreht. | |
| Berühmt war ebenso der [1][Drehbuchautor Gore Vidal], auch zur Besetzung | |
| des Films gehörte einiges an Schauspielprominenz: Hauptdarsteller Malcolm | |
| McDowell, bekannt aus „Clockwork Orange“, Helen Mirren, Peter O’Toole und | |
| John Gielgud gehörten dazu. Der Produzent Bob Guccione hatte vor allem | |
| einen Namen als Verleger des Magazins Penthouse. | |
| Bei dieser Produktion kamen großzügig dimensionierte Egos zusammen, die mit | |
| ihren Ansichten selten zusammengingen. Tinto Brass und Malcolm McDowell | |
| hatten andere Meinungen zum Drehbuch als Gore Vidal, und Brass hatte | |
| wiederum andere Vorstellungen von Erotik als Guccione. Wobei es sich der | |
| Regisseur mitunter nicht nehmen ließ, mit einer Darstellerin selbst zu | |
| demonstrieren, wie er eine Oralverkehrszene gespielt haben wollte. Eine | |
| Recherche zu „Caligula“ unter #MeToo-Gesichtspunkten wäre vermutlich | |
| angezeigt. | |
| Vom fertiggestellten Film, dem Guccione maßgeblich seinen Porno-Stempel | |
| aufgedrückt hatte, distanzierten sich die meisten Beteiligten umgehend. | |
| Doch um „Caligula“ gab es keine Ruhe. Allerlei Fassungen kursierten seither | |
| in unterschiedlichen Graden der Drastik. | |
| ## Brass distanziert sich | |
| Die vom Autor Ranjit Sandhu betriebene Website caligula.org, deren Einträge | |
| einen guten Eindruck davon vermitteln, wie dieser Film zur Obsession werden | |
| kann, listet 42 verschiedene Versionen, ohne den „Ultimate Cut“. Keine | |
| dieser Fassungen entsprach den Ideen von Tinto Brass. Der wollte mit der | |
| Angelegenheit danach nichts mehr zu tun haben. | |
| Bis vor einigen Jahren erneut Bewegung in die Geschichte kam. Der | |
| Filmemacher und Historiker Alexander Tuschinski hatte für seine | |
| Bachelorarbeit an der Stuttgarter Hochschule der Medien zu „Caligula“ | |
| geforscht und darüber eine von Brass angefertigte unvollständige Rohfassung | |
| entdeckt, aus der er Vorschläge für eine Rekonstruktion im Sinne des | |
| Regisseurs entwickelte. | |
| Tuschinski erhielt sogar den Segen von Tinto Brass für das Projekt und kam | |
| so weit, dass er das umfangreiche Filmmaterial, das bei Penthouse lagerte, | |
| sichten konnte. Die damalige Inhaberin Kelly Holland kündigte 2018 | |
| öffentlich ihre Unterstützung an. Dann wechselte Penthouse erneut den | |
| Besitzer. | |
| Jetzt erscheint mit „Caligula – The Ultimate Cut“ eine Fassung, an der | |
| weder Tinto Brass noch Alexander Tuschinski beteiligt sind. Brass | |
| distanzierte sich abermals von der 2023 in Cannes vorgestellten Version. | |
| Was nicht allein daran liegt, dass er nicht involviert war. | |
| Dieser Film führt in seinen Credits jetzt recht umständlich „Dreharbeiten: | |
| Tinto Brass. Produktion & Rekonstruktion: Thomas Negovan“ an. Negovan, ein | |
| Kunsthistoriker und Autor, war als Filmproduzent bisher nur vereinzelt | |
| aufgetreten. Penthouse hatte ihn angeheuert für das Vorhaben, das er ohne | |
| die noch lebenden Beteiligten von damals verwirklichte. Im Presseheft zum | |
| Film erwähnt er in einem Interview seine erfolglosen Versuche, mit Brass | |
| oder McDowell in Kontakt zu treten. | |
| Was hat Negovan in seiner Rekonstruktion getan? Er konzentriert sich | |
| buchstäblich auf die Konstruktion. Aus den mehr als 90 Stunden Filmmaterial | |
| vom Dreh wählte er bisher ungenutzte Aufnahmen. Brass hatte am Set stets | |
| drei Kameras laufen, und Negovan verwendet in seiner Fassung nun | |
| ausschließlich Einstellungen, die in der Kinofassung nicht vorkamen. | |
| Szenen, die als Nahaufnahme zu sehen waren, präsentieren sich jetzt zum | |
| Beispiel aus größerer Entfernung. Einige Szenen, die nicht enthalten waren, | |
| ergänzte Negovan. Herausgekommen ist eine Version, die gut 20 Minuten | |
| länger dauert als die ungekürzte Kinofassung. | |
| Trotzdem ließ Negovan viele Szenen aus, die mit dem Film gemeinhin | |
| assoziiert werden. Das sind einerseits die von Guccione ergänzten eher | |
| monothematischen Hardcore-Einschübe, andererseits fielen eine Reihe der | |
| Gewaltszenen weg. Oder aber auch einprägsame Bilder wie der Moment mit | |
| Caligula in der von Gold glänzenden Schatzkammer. Teile der Dekorationen, | |
| die wegen des Zeitdrucks einst unvollständig geblieben waren, ließ Negovan | |
| wiederum am Computer vervollständigen. | |
| Das sind sehr fragwürdige Entscheidungen, die in der Filmgeschichte | |
| beispiellos sein dürften. Dadurch, dass die Szenen aus komplett anderen | |
| Perspektiven gezeigt werden als den vom Regisseur gewählten, verwischt | |
| Negovan weitgehend die künstlerische Handschrift von Brass. | |
| Gleichwohl bietet der Film eine Innovation, die zu begrüßen ist. Während | |
| der Ton von „Caligula“ konsequent, wie in den Siebzigern oft üblich, | |
| nachvertont war, mit Stimmen, die nicht von den gezeigten Darstellern | |
| stammten, kommen diesmal die digital aufbereiteten Tonaufnahmen vom Dreh | |
| zum Einsatz. Zum ersten Mal sieht und hört man Malcolm McDowell als | |
| Caligula oder Helen Mirren als Caesonia. | |
| Negovan rechtfertigt sein Vorgehen damit, dass er in dieser Fassung die | |
| Schauspieler zu ihrem Recht kommen lassen wollte. Und bei aller Kritik kann | |
| man sagen, dass der Film in dieser Hinsicht gelungen ist. Insbesondere | |
| [2][Helen Mirrens starke Darbietung] kommt besser zur Geltung, McDowells | |
| Caligula macht eine stärkere Entwicklung durch und wird nicht durchgehend | |
| auf seinen Wahnsinn begrenzt. | |
| Dass die Filmmusik von Bruno Nicolai, im Film als „Paul Clemente“ | |
| angeführt, mit ihren Orchester- und Harfenklängen jetzt einem | |
| elektronischen Brodeln weichen musste, nimmt dem Film hingegen vieles von | |
| den satirischen Elementen, die Brass im Sinn hatte. Wer weiß, vielleicht | |
| bleibt dies ja am Ende nicht der letzte Schnitt. Als Zwischenstand lässt | |
| sich immerhin festhalten: Zu den großen Egos rund um „Caligula“ hat sich | |
| mit Thomas Negovan anscheinend ein weiteres hinzugesellt. | |
| 3 Nov 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Zum-Tod-Gore-Vidals/!5087616 | |
| [2] /Hommage-der-Berlinale-an-Helen-Mirren/!5662918 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
| ## TAGS | |
| Filmstart | |
| Film | |
| wochentaz | |
| Genrefilm | |
| taz Plan | |
| wochentaz | |
| Kolumne Lidokino | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kinoempfehlungen für Berlin: Bedingungslose Kunst | |
| Die Festtage sind die ideale Zeit für Filmgeschichte, bei „Cinema! Italia!“ | |
| stehen die Frauen im Fokus, bei Max Gruber ein wild entschlossener | |
| Architekt. | |
| Trump-Film „The Apprentice“: Den letzten Rest Anstand ablegen | |
| Der Film „The Apprentice“ von Ali Abbasi zeigt Donald Trumps Aufstieg in | |
| den 70er Jahren, wunderbar gespielt. Die Gegenwart schwingt darin stets | |
| mit. | |
| „Joker: Folie à deux“ in Venedig: Große Leere | |
| Endspurt bei den Filmfestspielen Venedig mit „Joker: Folie à deux“, diesmal | |
| als Musical und mit Popstar Lady Gaga in der weiblichen Hauptrolle. | |
| Hommage der Berlinale an Helen Mirren: Ich seh' nicht mehr so gut aus | |
| Sie spielt Frauen mit Ambivalenzen, ihr Alter ist ihr egal: Dafür wird | |
| Helen Mirren geliebt. Die Berlinale widmet der Schauspielerin ihre Hommage. |