Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Album zweier ungewöhnlicher Musikerinnen: Anregendes am Wegesrand
> Die türkische Musikerin Anadol spielt mit ihrer französischen Kollegin
> Marie Klock ein eigenwilliges Album ein. Überraschend in Texten und
> Musik.
Bild: Musikerinnen bei der Arbeit: Anadol (links) und Marie Klock in Istanbul
Dass es überhaupt zur Zusammenarbeit von Gözen Atila alias Anadol mit der
Pariser Künstlerin Marie Klock kam, grenzt an ein Wunder. Denn Anadol
behauptet gerne, sie habe „keine Bühnenenergie“ und leide unter
Lampenfieber. Bisweilen tritt sie als DJ auf, selten jedoch mit ihrer schön
verspulten Musik. Trotzdem landetet sie 2022 auf dem kleinen englischen
„Contra-Pop“-Festival für Outsider-Musik in Ramsgate – und traf dort auf
Klock, die das Konzept von Chanson, dieses altehrwürdige Musikgenre, gerne
gehörig zerrupft, bevor sie es neu zusammensetzt.
Die beiden merkten schnell, dass es funkt. Wenig später besuchte Klock
Anadol in ihrem Studio im Istanbul. Das Ergebnis ist das Album „La grande
accumulation“, was sich frei mit „es kommt einiges zusammen“ übersetzen
ließe – mäandernde, lange Tracks, bei denen man sich schwer entscheiden
kann, ob man Klocks Spoken-Word-Kaskaden oder den zwischen Klangkunst,
Orgel-Sounds, Jazz und Electronica oszillierenden Sounds folgen mag. Diese
freischwebende Musik legt immer wieder neue Fährten.
Prägend für die eigenwillige Atmosphäre der ankerlosen Musik – sie erinnert
an einen spätsommerlicher Spaziergang mit psychoaktiven Pilzen am Wegesrand
– war die Umgebung von Anadols Studio. Das liegt im Istanbuler Stadtteil
Büyükada – einer der City vorgelagerten Insel, Naherholungsort fernab des
urbanen Chaos: mit streunenden Katzen und alten Gebäuden.
## Alles mitnehmen
Die lakonische Dringlichkeit von Klocks surrealen, mantrahaft zu Gehör
gebrachten Geschichten erschließt sich sogar, wenn man des Französischen
nur bedingt mächtig ist – zum Glück gibt es dafür eine Übersetzungs-KI. D…
absurde Titeltrack „La grande accumulation“ etwa erzählt von einer Frau,
die zwanghaft mitnimmt, wogegen sie beim Laufen stößt: etwa Steine, kleine
und größere, Sandwichverpackungen. Spätestens beim defekten Gefrierschrank
ahnt man, dass hier bald einiges aus dem Ruder laufen wird.
Ausgerechnet im dreampoppig dahinperlenden „Sirop amer“ geht es um einen
Ghul, ein leichenfressendes Fabelwesen, das in der Gosse lebt. In den
Stücken schwingt stets ein existenzielles Bewusstsein mit, dass sich die
Dinge von einem Moment zum anderen drehen können.
Klocks Weg zur Musik war so verschlungen, wie ihre Texte klingen. Während
ihres Studiums in Berlin spielte sie in einer Synth-Pop-Band. Um ihre
Stimme zu finden, musste sie erst von der Klavierpädagogik zur
Literaturwissenschaft wechseln. Wie viel Vergnügen es ihr bereitet, eigene
Texte zu performen, stellte sie dann eher zufällig bei einem Konzert im
Berliner Schokoladen fest.
Als weiteres kreatives Erweckungserlebnis zählt sie die Begegnung mit dem
Dichter Damien Schultz, dessen Umgang mit Sprache sie elektrisierte. Zu
einer Zusammenarbeit kam es nicht, weil Schultz unerwartet verstarb. Klock
setzte ihm ein Denkmal, indem sie auf ihrem letzten Album „Damien est
vivant“ (2023) – Damien lebt – seine Lyrik vertonte. Ein bisschen wie auf
Treibsand unterwegs fühlt man sich nicht nur mit Klocks leicht morbiden
Texten, sondern auch dank Anadols Kompositionen.
## Falsche Fährten
Ihr Künstleralias legt eine falsche Fährte, weckt er doch Assoziationen an
Anadolu Rock: ein Genre, das sich seit den mittleren 1960er Jahren aus
türkischer Volksmusik und Psychedelic-Rock entwickelte. Tatsächlich jedoch
lieh Atila sich den Namen von einer nicht mehr existenten Automarke, der
ersten aus türkischer Produktion. Ethnisierenden Zuschreibungen will sich
die türkische Musikerin trotzdem entziehen, auch wenn nahöstliche Tradition
bisweilen durchaus einen Ausgangspunkt ihrer Klangforschungen darstellen,
etwa bei ihrem Soloalbum „Uzun Halavar“ (2019).
Was am Ende herauskommt, erinnert jedoch eher an die Experimente des
[1][BBC Radiophonic Workshop]. „Ich hoffe, dass ich nicht mehr über
nahöstliche oder türkische Musiktraditionen reden muss“, erklärte die
Musikerin in einem Interview „Das ergibt für mich keinen Sinn. Klar: Ich
selbst bediene mich manchmal bei Melodien aus dem Nahen Osten, aber das
machen ja alle. Ich mag generell Musik, bei der man sich nicht entscheiden
kann, was man vor sich liegen hat.“
Bei diesem schönen Psych-Pop-Album sorgt nicht nur dieser Umstand, sondern
auch Klocks unglaublich seltsame Texte für ein kurzweiliges Balancieren
zwischen Heimeligkeit, die retrofuturistische Klänge bisweilen ausstrahlen,
und einer fundamentalen, wenn auch produktiven Verwirrung.
5 Nov 2024
## LINKS
[1] /Buch-ueber-widerstaendige-englische-Kuenstlerinnen/!5896845
## AUTOREN
Stephanie Grimm
## TAGS
Neues Album
Musikerinnen
Surrealismus
Istanbul
wochentaz
Pop
taz Plan
taz Plan
Leipzig
Brüssel
Porträt
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neue Band Sinem: Villa, Kiosk, und Luftschloss
„Köşk“ heißt das tolle Debütalbum von Sinem. Da ist alles drin: New Wav…
türkische Volkslieder und Münchner Artschool. Das funktioniert sehr gut.
Neues Album von Halsey: Unbedingt weiterleben
Die Sängerin Halsey ist in den USA ein Star. Auf Ihrem neuen Konzeptalbum
singt sie über seelische Befindlichkeiten und eigene Krankheiten.
Neue Musik aus Berlin: Ritt auf der Riffwand
Die Band neànder legt ihr neues Album „III“ vor. Eine Post-Metal-Scheibe
zwischen Düsternis und Melodie, auf der auch mal ein Piano erklingen darf.
Debütalbum von fastmusic: Soundtrack der Entschleunigung
Auf „I Want To Love, And I Love“ kreiert Bela Fast aka fastmusic seinen
ganz eigenen minimalistischen Rhythmus. Ein schwelendes, warmes
Hörerlebnis.
DIY-Musikszene Leipzigs: Zwischen Aufbruch und Verdrängung
Neue Alben von Shed Ballet, Afar Odea und Fastmusic aus Leipzig zeigen
vielfältigen Sound, der trotz prekärem Freiraum der wachsenden Stadt
gedeiht.
Neues Album von Jazzerin Nala Sinephro: Unendlichkeit als Musiktherapie
Jazz meets Electronica: Die in London ansässige belgische Harfenistin Nala
Sinephro mischt diese beiden Zutaten auf „Endlessness“ elegant zusammen.
Drummerin Katharina Ernst: „Ein Schlagzeug ist nicht sittsam“
Die Musik von Katharina Ernst ist avantgardistisch, aber erstaunlich
zugänglich. Ihr Schlagzeug nutzt sie perkussiv, aber auch als
Melodieinstrument.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.