| # taz.de -- Gedenken an Halle-Anschlag: „Liebe ist stärker als Hass“ | |
| > Zum selbstbestimmten Gedenken der Überlebenden fünf Jahre nach dem Terror | |
| > kamen Hunderte. Die Reden handelten nicht nur vom Erinnern. | |
| Bild: Frank-Walter mit anderen Gedenkenden in der Synagoge Halle, 9. Oktober | |
| Halle (Saale) taz | Die Kundgebung auf der Kreuzung vor dem Tekiez löste | |
| sich nur langsam auf – obwohl das nasskalte Wetter am Mittwochabend alles | |
| andere als gemütlich war. Mehrere Hundert Menschen waren gekommen, um den | |
| Überlebenden und Hinterbliebenen des rechten Terrors zuzuhören. Es schien, | |
| als wollten sie gar nicht mehr gehen. | |
| Aufgerufen zur Kundgebung unter dem Titel „Trauer, Angst, Wut – Hoffnung?“ | |
| hatte die Soligruppe 9. Oktober und der Tekiez. Vor dem Laden, der vor fünf | |
| Jahren noch Kiez-Döner hieß und [1][wo 2019 ein Rechtsterrorist sein | |
| zweites Opfer umgebracht hatte], wollten sie nicht nur still gedenken, | |
| sondern den Betroffenen eine Bühne bieten. Dabei kamen auch Überlebende und | |
| Hinterbliebene anderer Anschläge zu Wort. In ihren Reden verdeutlichten | |
| sie, wie sich rechter Terror durch die jüngste Geschichte in Deutschland | |
| zieht. | |
| Leichter Nieselregen tröpfelte auf die Zuhörer*innen, manche spannten bunte | |
| Schirme auf. Auf der Fensterbank und vor den Holzbänken des Tekiez | |
| flackerten ein paar Kerzen. Von den Häuserwänden reflektierte das blinkende | |
| Blaulicht der Polizeiautos, die den Straßenabschnitt absperrten. | |
| ## Das häufigste Wort: „Danke“ | |
| Als 2019 der Täter in Halle versuchte, die Synagoge zu stürmen, [2][beging | |
| Christina Feist dort mit etwa 50 anderen jüdischen Menschen Jom Kippur]. | |
| Weil die Tür standhielt, blieben sie körperlich unverletzt. Der Täter | |
| erschoss auf der Straße die Passantin Jana L. und fuhr dann weiter zum nahe | |
| gelegenen Kiez-Döner. Am Mittwoch, fünf Jahre später, stand Feist zwar | |
| nicht in Halle am Mikrofon, sondern bei der parallel stattfindenden | |
| Kundgebung in Berlin – aber ihre vorher aufgezeichnete Rede schallte | |
| dennoch klar vernehmbar über die Kreuzung: „Deutschland hat ein | |
| Antisemitismus- und Rassismusproblem. Das gilt heute sogar noch mehr als | |
| vor fünf Jahren.“ | |
| Seit dem Anschlag kämpfe Feist mit den Symptomen einer posttraumatischen | |
| Belastungsstörung. „Ich habe mich gezwungen, das Haus zu verlassen, | |
| einkaufen zu gehen, in die Synagoge und zum Sport zu gehen.“ Sie habe zudem | |
| „über Jahre hinweg“ mit den Behörden über die Erstattung ihrer | |
| Behandlungskosten streiten müssen. | |
| Rechtsextreme Anschläge zu verhindern oder juristisch aufzuarbeiten, das | |
| sei Aufgabe des Staats – eigentlich. „Trotzdem sind es am Ende immer die | |
| Betroffenen, Überlebenden und Hinterbliebenen rechter Gewalt, die | |
| zusätzlich zu ihrem Leid, zusätzlich zu unserem Schmerz auch noch die Last | |
| der Aufklärung, die Last der Aufarbeitung und die Last des Gedenkens tragen | |
| müssen“, kritisierte Feist. | |
| Noch am Abend vor dem fünften Jahrestag des Halle-Anschlags habe sie zwei | |
| antisemitische Hassnachrichten erhalten. Die Ansichten des Täters, sie | |
| seien auch woanders in der Gesellschaft zu finden – und das sei bedrohlich. | |
| Feist beendete ihre Rede mit einem Aufruf: „Halle gedenken heißt, niemals | |
| aufzugeben.“ | |
| Nathan Biffio sprach bei der Kundgebung am Mittwoch zum ersten Mal seit dem | |
| Anschlag. Bislang hätten ihm die Worte gefehlt, sagte er und fuhr fort: „Am | |
| Tag des Anschlags trafen die Kugeln meinen Körper nicht und gingen doch | |
| mitten in meine Seele. Das, was bleibt, sind Trauer, Schmerz und die immer | |
| währende Frage: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“ | |
| ## Überlebende vernetzen sich | |
| In mehreren Redebeiträgen ging es auch um den Terrorangriff der Hamas am 7. | |
| Oktober 2023 und seine Folgen: [3][Unsicherheit, Angst. Jüdische Menschen | |
| weltweit spürten das.] So berichtete zum Beispiel Naomi Henkel-Guembel, | |
| Überlebende des Halle-Anschlags: „Das Schweigen vieler progressiver Kreise | |
| war ohrenbetäubend, das Fehlen einer klaren Haltung gegen antisemitische | |
| Gewalt zutiefst enttäuschend.“ | |
| Doch Henkel-Guembel betonte auch den Zusammenhalt zwischen den Betroffenen | |
| rechter Gewalt in Deutschland. Sie spreche, „weil wir als Überlebende ein | |
| Netzwerk gebildet haben, ein Band, das im Feuer der Gewalt geschmiedet | |
| wurde. Gemeinsam kämpfen wir gegen diese rechtsextremen Verbrechen.“ Auch | |
| sie sprach in Berlin, ihr Beitrag wurde in Halle von der Soligruppe 9. | |
| Oktober verlesen. | |
| Mamadou Saliou Diallo, dessen Bruder Oury Jalloh vor 19 Jahren in der | |
| Polizeiwache von Dessau verbrannte, wünschte „viel Kraft für alle Opfer, | |
| Überlebenden und alle Menschen, die für Gerechtigkeit kämpfen“. Er kenne | |
| den Schmerz und die Trauer. Kurz danach betrat Emiş Gürbüz die | |
| improvisierte Bühne vor dem Tekiez. „Mein Sohn Sedat wurde am 19. Februar | |
| 2020 in Hanau kaltblütig von einem Rassisten ermordet“, stellte sie sich | |
| vor. | |
| Gürbüz trug ein T-Shirt mit den Namen und Gesichtern der Opfer von Hanau. | |
| Sie erinnerte daran, dass wenige Tage zuvor ein Graffity mit ihren Porträts | |
| in Hanau übersprüht worden war. „Wie oft wollen sie unsere Kinder noch | |
| töten?“, fragte sie. Dann richtete sie ihre Worte an die Ermordeten: „Wir | |
| werden euch nicht vergessen und nicht zulassen, dass ihr vergessen werdet“, | |
| sagte Emiş Gürbüz, „Liebe ist stärker als Hass“. | |
| Nach jedem Beitrag gab es anhaltenden Applaus. Die Redner*innen wurden | |
| mit Umarmungen auf der Bühne begrüßt und verabschiedet. Das wohl häufigste | |
| Wort war „Danke“. Danke für die Zeit, die Bühne, die Aufmerksamkeit und d… | |
| Reden. | |
| ## Steinmeier für Gespräch im Tekiez | |
| Die Kundgebung war [4][nicht die einzige Gedenkveranstaltung am Mittwoch in | |
| Halle]. Über den Tag hinweg legten Menschen Blumen vor der Synagoge und dem | |
| Tekiez ab. Das Bündnis Halle gegen Rechts hatte einen Rundgang organisiert, | |
| bei dem ebenfalls mehrere Hundert Menschen demonstrationsartig durch die | |
| Stadt zogen und den Opfern gedachten. | |
| In der Ulrichskirche, etwa einen Kilometer südlich des Tekiez, | |
| veranstaltete die Stadt ein offizielles Gedenken. Dabei hielt auch | |
| Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) eine Rede. Für İsmet Tekin, | |
| einen der Überlebenden des Anschlags und späteren Betreiber des Tekiez, war | |
| sie besonders. Steinmeier habe klare Worte gefunden, „die ich bis jetzt so | |
| nicht gehört hatte“, sagte Tekin. De Überlebenden erklärten seit Jahren, | |
| dass der Terror nicht von Einzeltätern ausgehe. „Steinmeier hat das auch | |
| betont“, sagte Tekin. Das sei wichtig. | |
| Mittags hatte der Bundespräsident auch den Tekiez besucht und sich Zeit für | |
| ein Gespräch genommen. Auch darüber freute sich İsmet Tekin. Steinmeier | |
| habe zugehört. „Für uns war es das erste Mal, aber hoffentlich nicht das | |
| letzte Mal“, so Tekin. Beim nächsten Gespräch sollten auch die | |
| Hinterbliebenen und Überlebenden aus anderen Städten dabei sein, in denen | |
| es Anschläge gab, forderte er. „Wir kämpfen zusammen für eine bessere | |
| Gesellschaft.“ | |
| 10 Oct 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Fuenf-Jahre-nach-dem-Anschlag-in-Halle/!6038335 | |
| [2] /Prozess-gegen-den-Attentaeter-von-Halle/!5730637 | |
| [3] /7-Oktober---ein-Jahr-danach/!6034827 | |
| [4] /5-Jahre-nach-Attentat/!6038461 | |
| ## AUTOREN | |
| David Muschenich | |
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