# taz.de -- Ausstellung über Berlin der 90er: Dit war Berlin | |
> Häuser mit Einschusslöchern und bröckelnder Putz, Loveparade und überall | |
> Baustellen, Kräne und Kohleöfen. So war das, als unsere Autorin dort | |
> aufwuchs. | |
Bild: Diese Zeit riecht nach Kohleöfen und schmeckt nach Fassbrause | |
Ein kleines Mädchen schaut aus dem Rückfenster eines Autos. Den leicht | |
melancholischen Blick in die Ferne gerichtet, lehnt sie einen Arm gegen die | |
Heckscheibe wie zum Abschiedsgruß. Neben dem Mädchen ein Bürgersteig, auf | |
dem eine weißhaarige Frau zwei Häuserfassaden passiert. Während die eine | |
renoviert in neuem Glanz erscheint, eine Satellitenschüssel als Zeichen der | |
Postmoderne im Fenster, ist der Eingang des Nebenhauses zugemauert: Fenster | |
ohne Glas, Einschusslöcher und bröckelnder Putz. | |
Die 1997 [1][von Ostkreuz]-Fotografin Jordis Antonia Schlösser in | |
Lichtenberg aufgenommene Szenerie ist Teil der Ausstellung: „Träum weiter – | |
Berlin, die 90er“, die sich dem vielleicht aufregendsten Jahrzehnt der | |
Hauptstadt widmet. Zumindest in meiner kindlichen Erinnerung war es das, | |
denke ich, während ich durch die Räume des c/o wandle. | |
„Kraaaaaan“ möchte ich immer wieder aufgeregt rufen, so wie ich es als | |
kleines Kind machte, wenn meine Mutter und ich quer durch die frisch | |
vereinte Stadt fuhren. Von ihrer Uni in Dahlem nach Pankow, wo es keinen | |
Telefonanschluss und Ofenheizung gab. Eine Achterbahn der Emotionen waren | |
diese Autofahrten, an denen ich wie das Mädchen bei Schlössern an der | |
Autoscheibe klebte und in Ekstase geriet, sobald die Ungetüme aus Stahl vor | |
mir auftauchten. Verschwanden sie wieder hinter einer Häuserschlucht, muss | |
auch mein Blick voll Melancholie gewesen sein. | |
Als „Transitraum zwischen Vergangenheit und Zukunft“ beschreiben die | |
Kurator*innen das Berlin der Neunziger. Ich möchte rein in diesen | |
Transitraum, möchte zeitreisen in das, woran ich nur noch bruchstückhafte | |
Erinnerungen habe. M. begleitet mich bei meiner Alltagsflucht. Vor Fotos | |
der Loveparade bleiben wir stehen, schwelgen in Erinnerungen an unsere | |
Eltern, die uns auf den Schultern trugen oder uns Trillerpfeifen verkaufend | |
durch die Menge lotsten. | |
## Diese Zeit schmeckt nach Fassbrause | |
Bei Fotos aus der [2][berüchtigten Nachwende-Technoszene] lassen wir | |
gedanklich Nächte im „Tresor“ wiederaufleben, auch wenn wir dessen | |
Originalstätte im Keller einer ehemaligen Wertheim-Filiale nicht mehr | |
kennen. „Untsss, untss, umpf, umpf“, hämmert ein imaginärer Technosound in | |
meinem Kopf. Mir fehlt die musikalische Untermalung, ein Sound, der diese | |
fotografische Zeitreise lebendig macht. | |
Klanglich belebter ist es einen Tag vorher im Ballhaus Ost. | |
„Antikapitalista“, rufen Menschen, wo meine Zeitreise beginnt: in | |
[3][„Helmitropolis“, einer aus Schaumstoff nachgebildeten Utopie] des einst | |
größten urbanen Spielplatzes. „Alle machten Theater“, sagen die | |
Darstellenden und rekapitulieren eine Zeit, in der es „chaotisch, aber | |
wunderbar“ war. | |
Fotoprojektionen füllen die Wände, wieder graubraune Häuserfassaden und ein | |
mit Bitumenbahnen ausgelegtes Dächermeer. Unweit von hier habe ich oft auf | |
einem dieser Dächer gespielt, mit S., deren Vater und andere ein Haus in | |
der Dunkerstraße besetzt hatten. Diese Zeit riecht nach Kohleöfen und | |
schmeckt nach Fassbrause. | |
## Money can't buy us happiness | |
Die Wandprojektion verändert sich, wie es auch Berlin getan hat. | |
Hochglanzfassaden umringen uns, hier im Ballhaus spiegelt sich die Welt von | |
heute, größtenteils versiegelt und privatisiert. „Die anderen sind reich | |
jetzt und ich kann nicht mehr“, sagt einer der Helmis, der vor all dem | |
Stahl und Beton seltsam aus der Zeit gefallen wirkt. | |
„Als die Mauer fiel, war das wie ein Orgasmus aus Freiheit und Kreativität, | |
eine Eruption, eine Explosion“. Die Stimme kommt aus meinem iPad und gehört | |
zu einer Serie in der ZDF Mediathek. Zwei Tage unterwegs gewesen, bin ich | |
erschöpft, erlebe die Stadt nun von meinem Sofa aus. | |
„This is gonna be great“, erzählt von einem Niederländer, der nach Berlin | |
zieht. Berieselung, ohne Anspruch, denke ich mir. Und werde von einer | |
klugen und witzigen Produktion überrascht. „Das ganze Spreeufer war voll | |
mit seltsamen Clubs. Jetzt sind es nur Büros und Luxusappartments“, die | |
Darstellerin in der Szene klingt ähnlich wehmütig, wie ich mich nach meiner | |
Zeitreise fühle. | |
Draußen zieht die Berliner Nacht vorüber. Bässe wummern. „Money can't buy | |
us happiness. Can we all slow down and enjoy right now?“, dringt die Stimme | |
von Jessie J hoch zu mir in den vierten Stock. | |
2 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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