# taz.de -- Laubbläser, Sahra Wagenknecht und Handys: Mach's gut, lieber Roter… | |
> Im Namen des Fortschritts gab es schon viele Fehler: Laubbläser oder eine | |
> Digitalisierung, bei der alte Menschen vergessen werden. Eine | |
> Abschiedskolumne. | |
Bild: Bald wird es elektrische, saugende und vor allem leise Laubroboter geben | |
Das mit dem Fortschritt ist so eine Sache. Wenn’s gut läuft, ist jeder | |
froh, dass jemand mal was Neues erfunden hat und alte Zöpfe abschneidet. | |
Wenn Fortschritt aber in Wirklichkeit eine Verschlechterung bedeutet, sieht | |
es schon anders aus: Laubbläser etwa sind eindeutig ein Rückschritt. Wenn | |
ich trotz des infernalischen Lärms im Angesicht eines laubblasenden Mannes | |
(es sind immer Männer) mal klar denken kann, frage ich mich, warum ein | |
Laubbläser eigentlich bläst und nicht saugt, also das Laub nur ein bisschen | |
weiter wegbläst und nicht einsaugt. Ich bin mir sicher: Bald wird es | |
elektrische, saugende und vor allem leise Laubroboter geben, mit so einem | |
Laubbehälter obendran. Den Zwischenschritt mit dem Laubbläser hätte man | |
sich sparen können. | |
Auf dem Weg zur Arbeit komme ich immer am Ort des ehemaligen Berliner | |
Anhalter Bahnhofs vorbei. Der Bahnhof war vor dem Zweiten Weltkrieg einer | |
der schönsten und wichtigsten Kopfbahnhöfe Europas; hier gingen Fernzüge | |
nach Rom und sogar Athen ab. Er wurde im Krieg zwar stark beschädigt, blieb | |
aber bis auf das Dach intakt. | |
Ende der 50er Jahre ließ der Berliner Senat im Namen des Fortschritts das | |
schöne große Gebäude abreißen – brauchen wir nicht mehr, kann weg. Keine | |
Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran, wie die Band | |
„[1][Fehlfarben]“ vor über 40 Jahren sang oder besser schrie. Heute | |
befinden sich in der Einöde Sportplätze aus Kunststoffbelag und [2][eine | |
hässliche Konzerthalle]. Nur noch ein kleiner Teil des Portals steht dort, | |
wie als stilles Mahnmal. | |
Manchmal halte ich kurz an und stelle mir den Bahnhof in den zwanziger | |
Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor: Männer in schicken Anzügen und | |
Frauen mit schönen Hüten eilen in den Bahnhof, Autodroschken tröten ihre | |
Hupe, der Zeitungsverkäufer ruft die Schlagzeile des Tages (ja, ich weiß, | |
in „Weimar“ lief vieles nicht gut, aber die Leute hatten wenigstens Style. | |
Ich fand im Nachlass meiner Oma Fotos von ihr mit coolem Kurzhaarschnitt in | |
ihrer Abiturklasse – dass Frauen aus Kleine-Leute-Familien damals erstmals | |
Abitur machen konnten, war eindeutig ein Fortschritt). Was hätte man mit | |
dem Bahnhofsgebäude nach dem Krieg alles anstellen können: einen | |
Kulturbahnhof samt Markthalle oder so. Zu spät, jetzt ist er weg, der | |
Bahnhof. | |
Besonders schlimm ist das Fortschritts-Mantra bei der, ich kann das Wort | |
nicht mehr hören, Digitalisierung. Banken dünnen auf dem Land Filialen | |
immer weiter aus, weil man seine Bankgeschäfte jetzt mit dem Handy | |
erledigen soll. Und die Älteren, die damit nicht klarkommen? Soll doch der | |
Enkel helfen. Firmen schaffen den telefonischen Kundenservice ab, jetzt | |
muss man mit einem Chatbot kommunizieren, also mit künstlicher Intelligenz. | |
## Kalte Maschine | |
Dabei geht viel verloren: Ein Chatbot kennt keine Empathie, keine | |
Kompromissfähigkeit, kein Entgegenkommen – keine menschliche Intelligenz. | |
Hinter der säuselnden Stimme steht die Kälte der Maschine. Das BSW von | |
Sahra Wagenknecht fordert, [3][dass Tablets und Handys aus dem Unterricht | |
der unteren Schulklassen verbannt werden sollen]. Darüber kann man sich | |
leichthin lustig machen – wie altmodisch! -, aber die Partei hat damit mit | |
feinem Gespür ein leises, aber verbreitetes Unbehagen in der Gesellschaft | |
aufgenommen: Wie viel Digitalisierung wollen wir eigentlich? Bedeutet jede | |
Automatisierung Fortschritt? Wollen wir uns so sehr abhängig von unserem | |
Handy machen lassen? Warum ist das Einrichten eines neuen Fernsehers | |
inzwischen so kompliziert wie das Hochfahren eines Airbus A380? | |
Ich fürchte, dieses Unbehagen wird das BSW noch größer machen. Oder falls | |
sich die Partei selbst zerlegt, bin ich mir sicher, dass es bald eine | |
Anti-Digital-Partei mit Erfolgschancen geben wird. Die etablierten Parteien | |
sind zu sehr in der Routine gefangen und auf Autopilot eingestellt, als | |
dass sie mal Grundsatzfragen stellen könnten. | |
Im Namen der Weiterentwicklung der taz wird dies der letzte „Rote Faden“ | |
sein, die Wochenendkolumne, die viele Jahre für Sie die Ereignisse der | |
Woche launig oder ernst miteinander verknüpft hat. Eine neue Kolumne wird | |
es ab nächster Woche geben. Ob das ein Fortschritt ist? Lassen wir uns | |
überraschen. | |
28 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=Kvek60dvq50 | |
[2] /Tempodrom-Gruenderin-Irene-Moessinger/!5529425 | |
[3] /BSW-Parteitag-in-Brandenburg/!6020441 | |
## AUTOREN | |
Gunnar Hinck | |
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